Man kennt den alten Ruf der Moderne: "Ich ist ein anderer." Er hallte auch, kaum war der Geschützdonner der Isonzoschlachten verstummt, von jener steinüberfluteten Landschaft hinter Triest herüber, die trotz ihrer Armut noch in jedem Jahrhundert mindestens drei Mal ihren Besitzer gewechselt hat: vom Karst, wo am 18. März 1904 ein Dichter geboren wurde, der während seiner kurzen Lebenszeit kein Buch veröffentlicht hat. Srecko Kosovel starb 1926, hinterließ über 2000 Gedichte und sollte - das stellte sich erst später heraus - mit diesem Werk weit über seine Zeit und seinen heimatlichen Raum hinaus weisen.
Von seinem Rang und Charisma her wird er mit Rimbaud, Apollinaire, Trakl und Celan verglichen. Ins Deutsche wurde er bisher selten übersetzt, für große deutsche Verlage liegt die slowenische Literatur "Out of (Profit-)Area". Nun hat Christian Thanhäuser in seiner Edition zum 100. Geburtstag dieses Dichters einen Band herausgebracht, ausgewählt und übersetzt von Ludwig Hartinger: "Mein Gedicht ist mein Gesicht. Erfindung einer orphischen Landschaft."
Schlägt man das Buch auf, liegt eine orphische Landschaft vor dem Leser. Es ist weit mehr als ein Lyrikband. "Dieses Buch wurde erwandert in Kosovels Wortland, auf dem Karst, in Ljubljana und an der Donau", schreibt Hartinger im Nachwort. Tatsächlich ist es ein Wandern auf mehreren Achsen, ein "auf der Achse sein".
Die einfachste Lesart ist die lineare. Die Auswahl der Gedichte folgt in etwa der kurzen Lebensachse. Schon diese Ebene ist immer wieder durchbrochen von Notaten aus dem Tagebuch, Prosafragmenten oder Entwürfen zu Gedichten, auf Servietten oder die Rückseite von Rechnungen hingekritzelt. In diesem jungen Leben gibt es keine Schaffensperioden, da gehen unterschiedliche Stilversuche ineinander über, Naturlyrik, Symbolismus, Konstruktivismus.
Auf etwa sechs Jahre konzentriert sich der denkerische Reflex - auf eine Epoche des Ersten Weltkrieges, der Erschütterung Europas, des Zusammenbruchs einer ganzen Kultur und des politischen Umbruchs, in dem der Kapitalismus blank zu Tage tritt und der Faschismus sich bereits ankündigt. Auch diese Zerrissenheit äußert sich: Kosovels Karst fällt an Italien, während er im slowenischen Ljubljana studiert. Seine "Nihilomelancholie" ist jedoch kein Regionalismus, sondern das Zweifeln und Verzweifeln an Europa ("Europa stirbt. / Völkerbund und Apotheke / beides ist Lüge."), wie es auch andere große Geister in den Nachkriegsjahren erlebten.
Doch ist Kosovel ein junger Mann, brennend interessiert an der Welt, dürstend nach neuen Ideen, voller Heißhunger auf Philosophien und immer interessiert am Experiment. Neugier treibt ihn an zu intensiver Suche. Die Sprache aber, in die er die Resultate seiner Suche destilliert, ist klar und karg - wie der Karst, seine Landschaft, sein Wortraum. Irgendwo notiert er einmal: "Mein Leben ist meins, slowenisch, heutig, europäisch, ewig."
Ludwig Hartingers Verdienst ist es, weit über Kosovels Lyrik hinaus eine Ahnung von dessen Wortraum in ein Buch gefasst zu haben.
Srecko Kosovel
Mein Gedicht ist mein Gesicht.
Erfindung einer orphischen Landschaft.
Auswahl und Übersetzung aus dem Slowenischen von Ludwig
Hartinger. Holzschnitte, Federzeichnungen von Christian
Thanhäuser.
Edition Thanhäuser, Ottensheim an der Donau 2004; 174 S., 20,-
Euro