Dass sich Theorie und Praxis nicht immer decken, erleben im Deutschen Bundestag vor allem diejenigen, die Politikwissenschaft studierten und dann irgendwann später den Sprung in das Parlament schafften und damit ein Wechsel der Perspektive einherging. Ein studierter Politologe mit Bundestagsmandat ist auch Markus Kurth von den Grünen. Nach zwei Jahren als MdB und etlichen beruflichen Stationen hält er im Gespräch mit "Das Parlament" resümierend fest: "Wenn man in einer Partei arbeitet oder in einer parteinahen Organisation oder anderen Abgeordneten Ratschläge gibt und Expertisen schreibt, dann besteht der Vorteil, dass man in Modellen denken kann. Man kann stärker von den Bedingungen der Durchsetzbarkeit absehen. In der Politik selbst wird man sehr stark von Überlegungen dominiert, was durchsetzbar ist und was nicht. Das Konzeptionelle tritt sehr häufig in den Hintergrund."
Der 38-jährige gebürtige Bonner ist seit 2002 sozialpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, sammelte vorher berufliche Erfahrung in der Wissenschaft im Rahmen des Forschungsprojekts Politische Steuerung/Umweltpolitik in Großbritannien, verdingte sich als Politikberater für die kommunalpolitische Vereinigung von Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen mit dem Arbeitsschwerpunkt Kommunale Sozialpolitik, war wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Initiativkreis Emscherregion, wo ihn Regionalentwicklung im Ruhrgebiet und Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wohnungspolitik beschäftigten. Ehrenamtlich hat er immer schon in der Politik unter anderem im Kreisverband der Grünen in Dortmund mitgemischt. Jetzt beschäftigen Kurth so gesprächsintensive, schwer vermittelbare Themen wie Mindestlohndebatte, Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe) und IX (Rechte von behinderten Menschen) und die insgesamt geballte Kraft heftigerer Diskussionen, seit es um die Umsetzung der Agenda 2010 geht. Deshalb meint er auch, dass ein Stück Dickfelligkeit im Sinne von "sich nicht von Kritik aus der Bahn werfen lassen" ganz gut tut in diesem Geschäft. Auch innerhalb der Partei werde mit harten Bandagen gekämpft, schildert der Parlamentarier in eher wissenschaftlich-nüchterner Art.
Grundsätzlich, so meint Kurth, sei seine Arbeit für einen neuen Abgeordneten recht erfolgreich. "Es gelingt mir - glaube ich - schon, bestimmte Debatten anzustoßen, die vorher gesellschaftlich nicht geführt worden sind. Ich halte mir durchaus zugute, die Mindestlohndebatte angestoßen zu haben. Meine Zustimmung zu Hartz IV habe ich daran geknüpft, dass es ein Mindestlohngesetz gibt, zumindest eine politische Verabredung in diese Richtung, weil ich da eine gefährliche Schwachstelle des Gesetzes sehe." Das sagt er als einer, der das Gesetz mit verhandelt hat und auch dahinter steht. Die Gesetzesarbeit ist für ihn das eine, bestimmte gesellschaftliche Perspektiven und Debatten in die Gesellschaft zu tragen, sieht Kurth als andere wichtige Aufgabe eines Parlamentariers an.
Durch die Umsetzung der Agenda 2010 blies einem Sozialpolitiker wie Kurth der Gegenwind heftig ins Gesicht. "Das macht es einerseits für einen Neuling leichter, wenn man sich in einem Themenfeld bewegt, das zwar viel Arbeit mit sich bringt, aber auch Profilierungschancen bietet. Andererseits hat das für mich bedeutet, dass ich mich sehr häufig mit meinen Positionen auseinandersetzen musste, die ich hatte, bevor ich in den Bundestag gekommen bin. Also, ich musste auch öffentlich begründen, warum ich in vielen Fällen nicht für das stimmen konnte, was eigentlich in unserem Parteiprogramm steht." Das sei manchmal schwer auszuhalten und schwierig zu vermitteln und es sei auch der Preis des Regierens.
Kurth konzentriert sich unter anderem auf Sozialpolitik für behinderte Menschen, wünscht sich, dass so manches besser klappt, wenn es um Rehabilitation und berufliche Förderung von Menschen mit Behinderung geht. Wenn jemand einen Unfall hatte, nachträglich mit einer Behinderung konfrontiert ist, stritten sich die Kostenträger häufig auf dem Rücken der Betroffenen, kritisiert Kurth. "Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung versagt da in meinen Augen. Das muss man ganz klar sehen. Das hat auch die wissenschaftliche Auswertung der Bundesregierung ergeben." Kurth will dies öffentlich machen, denn es beträfe Hunderttausende von Menschen. Es sei eine wichtige Aufgabe für einen Politiker, fachliche Details anschaulich herauszuarbeiten und das der Öffentlichkeit zu vermitteln. Dies versucht Kurth ebenso innerhalb der Ausschussarbeit umzusetzen. Ganz gern wäre er auch in den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gegangen, zumal er die Ressorttrennung von Arbeit und Soziales nicht für geglückt hält. Er ist nicht der Auffassung, dass sich diese beiden Bereiche lupenrein von einander trennen lassen. Im Großen und Ganzen fühlt er sich aber im Gesundheitsausschuss gut aufgehoben.
Auch wenn Kurth an der Universität nicht immer glücklich darüber war, wie mit dem akademischen Nachwuchs umgegangen wurde, so zumindest seine Erfahrung in den Geisteswissenschaften, wurde er durch das wissenschaftliche Arbeiten doch sehr geprägt. Themen auch in der Politik wissenschaftlich aufzuarbeiten und gleichzeitig gut kommunizieren zu können, hält er deshalb für sehr wichtig. Diese inhaltlich und auch langfristig intensiv zu durchdringen, nennt er eine persönliche Stärke. Eines kommt ihm bei diesem Ziel zugute: mehr Zeit dafür zu haben. Denn Kurth ist über die Liste in den Bundestag eingezogen und hat keinen Wahlkreis. Da fühlt er sich ein bisschen freier als direkt gewählte Abgeordnete, die schnell in stärkere Terminzwänge vor Ort geraten.
Immer mehr begreift Kurth die Tätigkeit des MdB als Beruf "mit einem bestimmten Ethos". Wie in anderen Berufen auch, gelte es in Etappen und Schritten zu denken, wenn man etwas nicht durchbekommen hat. Man müsse sich Strategien zurechtlegen, Ressourcen managen, Gesetze im Sinne von Projekten voranbringen und dann jeweils einen vorläufigen Abschluss finden. Gerade hier unterscheide sich der MdB von anderen Berufen, findet Kurth. "Der Tischler hat den Tisch irgendwann fertig. Aber in der Politik erreicht man nur vorläufige Stationen. Die können sich aber weiter entwickeln. Das muss so gerade in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft sein und es ist das, was die Leistungsfähigkeit der Demokratie ausmacht." Dies sei der Bevölkerung häufig schwer zu vermitteln, so der Parlamentarier. Die Bevölkerung habe gerne fertige Lösungen, sie mag das Prozesshafte nicht, den Status des Vorläufigen und Unvollkommenen und erst recht keine "krummen Kompromisse", damit überhaupt etwas passiere. "Das Werk des Politikers hat einen ganz anderen Charakter. Das muss deutlich werden", unterstreicht Kurth.
Wenn er Besuchergruppen in Berlin hat, erläutert er gern selbst differenziert und mit Beispielen, wie und warum politische Entscheidungen zustande gekommen sind. Gute Erfahrungen hat er auch mit öffentlichen Veranstaltungen gemacht, nicht nur in Dortmund, sondern bundesweit. Kurth schätzt die detaillierte, fachliche Auseinandersetzung mit wenigen, die letztendlich auch Multiplikatoren sind. Weniger hält er von Grußworten, die politisch wenig bewegten. Da er ein breites kompliziertes Politikfeld besetzt, wo jetzt viele Baustellen zu bearbeiten sind, hat sich Berlin zu einem Schwerpunkt entwickelt. "Das ist eine relativ hohe Belastung für eine einzelne Person in einer kleinen Partei, die auch noch in der Regierungsverantwortung steht", so Kurth. In der Hauptstadt hat der Politiker auch seinen privaten Mittelpunkt. Sohn Jonas, knapp ein Jahr alt und seine Lebensgefährtin schaffen die psychisch so notwendige Entlastung vom Politikbetrieb. Man merkt, was wirklich wichtig ist", beschreibt Kurth die Erfahrung seit der Familiengründung. Pflegeleicht und lieb sei der Kleine, das ideale Abgeordnetenkind, meint Kurth schmunzelnd. Papa und Politiker: Das geht eben manchmal doch gut zusammen.