Neben dem ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein gilt Jacques Delors als derjenige Kommissionschef, unter dessen Führung die Europäischen Gemeinschaften die größten Fortschritte gemacht haben. Delors, von 1985 bis 1995 außergewöhnlich lang amtierender Kommissionspräsident, legt nun seine Memoiren vor, in denen sich zwei Drittel mit Europa befassen, aber die auch ein bisher in Deutschland nicht so bekanntes Delorsbild vermitteln.
Jacques Delors, 1925 in Paris geboren, wuchs als Einzelkind in bescheidenen Verhältnissen auf. Sukzessive hat er sich empor gearbeitet. So arbeitete Delors in früher Jugendzeit bei der Banque de France und studierte im Abendstudium zwischen 1947 und 1950 am Centre d'études supérieures de banque, der Zentralen Bankakademie. Die Politik und der Glaube sollten für Delors wichtige Bezugspunkte seines Lebens werden. Schon recht früh ließ er sich politisieren: "Das Politische ist für mich der höhere Wert und dem Wirtschaftlichen, Sozialen, Technischen übergeordnet."
Das Politische verleiht den zu treffenden und getroffenen Entscheidungen für Delors den eigentlichen Sinn. Delors' Denken und Handeln, so teilt er uns mit, war stets von der besonderen Beachtung geprägt, die er den Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft, der Rolle der Partner in den Bereichen von Wirtschaft und Sozialem und der lebenswichtigen Debatte zwischen Politikern und Intellektuellen, also der Wichtigkeit von Ideen und Gestaltungsräumen der Geschichte, gezollt habe.
Schon früh wurde Delors' Handeln auch durch seine Gewerkschaftsarbeit geprägt, die er eigentlich nie aus den Augen verloren hat. Delors arbeitete im Plankommissariat, die er als schöne Jahre bezeichnet, konnte er doch dort als "Ingenieur für Soziales" wirken. Zwischen 1969 und 1972 diente der Sozialdemokrat Delors dem (konservativen) gaullistischen Regierungschef Chaban-Delmas, um die Idee der "Neuen Gesellschaft" zu verwirklichen. Voller Bewunderung spricht Delors von diesem Premierminister, der sich als reformfreudiger Politiker erwies und Neuem durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. Aber Delors musste auch die Grenzen erkennen, welche die Reformfähigkeit Frankreichs bereits in den 70er-Jahren prägte.
Allerdings sollten sich diese drei Jahre in einer gaullistischen Regierung für Delors' Karriere in der Sozialistischen Partei Frankreichs nicht positiv auswirken. 1981, als Francois Mitterrand im dritten Anlauf erster sozialistischer Präsident der V. Republik geworden war, wurde Delors sein Finanzminister. Doch ihm haftete das Image des politischen Technikers und Linkskatholiken an, den man in der neu gebildeten Regierung zwar brauchte, der aber in einer Zeit des Vorherrschens des linken Flügels in der Kabinettsrangfolge zunächst nur auf Platz 16 geführt wurde.
Erst als er den Kampf für eine neue Finanzpolitik nach zwei Jahren gewonnen hatte, rückte Delors in der Kabinettshierarchie deutlich nach vorn. Doch sehr bald sollte sich die europäische Aufgabe für Delors stellen. Kaum als Kommissionspräsident im Amt, brachte er das Weißbuch über den einheitlichen Binnenmarkt auf die politische Agenda. Es führte zur Einheitlichen Europäische Akte (EEA) und zur Realisierung des Binnenmarkts 1993. Die EEA versteht Delors als seinen Lieblingsvertrag, denn "mit dem Text hatte die Kommission das politische Instrument, das sie benötigte, nicht nur um den Binnenmarkt zu vollenden, sondern auch um weitere Politiken in Gang zu setzen, die der Gemeinschaft das Antlitz eines europäischen Gesellschaftsmodells geben würden - ein Gleichgewicht zwischen Markt und Regulierung, eine feingesponnene Dialektik zwischen Wettbewerb, Zusammenarbeit und Solidarität".
Des weiteren wird die Rolle des Kommissionspräsidenten im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, beim Maastrichter Vertrag und hier insbesondere bei der Währungsunion deutlich. Auch bei Delors kann man gut nachvollziehen, dass die Grundentscheidung über die Wirtschafts- und Währungsunion schon 1988/89 gefallen war, dass aber Helmut Kohl mit aller Macht ein definitives Datum für den Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion vermeiden wollte, dazu aber im vertraulichen Gespräch von Mitterrand faktisch gezwungen wurde.
Für die zukünftige Entwicklung, in die sich der "Pensionär" Delors nicht nur mit seiner Studiengruppe "Notre Europe", sondern auch durch gezielte Reden immer wieder eingeschaltet hat, sieht er positive Entwicklungen, wenn das institutionelle Dreieck - Parlament, Rat, Kommission - seine Aufgaben erfüllt und sich entsprechend mit dem Europäischen Rat kurzschaltet. Dann ist es laut Delors möglich, bei der Verständlichkeit der Prozesse einen deutlichen Zugewinn zu verzeichnen und sich auf den Gleisen von demokratischer Verantwortlichkeit und Bürgersinn zu bewegen.
Fragt man nach bisher Unbekanntem über den europäischen Integrationsprozess, so wird man eigentlich kaum etwas Neues finden. Was diese Memoiren aber so interessant macht, sind die vielen kleinen Bemerkungen, die zeigen, dass Politik nicht immer rational betrieben wird. So passt es gut zu anderer Memoirenliteratur, wenn Delors davon spricht, dass das Kabinett (unter der Präsidentschaft Mitterrands) nicht der Ort für eine freimütige und offene Diskussion war. Spannend auch, wenn Delors über vertrauliche Gespräche im Elysée-Palast berichtet und dabei sehr gut das allgemeine Misstrauen französischer Politiker gegenüber der EU-Kommission zum Ausdruck kommt.
Wenn man natürlich in der Memoirenliteratur sich immer der Rolle des Verfassers bewusst sein muss, sind diese Erinnerungen eines großen Europäers ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des Europäischen Integrationsprozesses in der Dekade zwischen 1985 und 1995.
Jacques Delors
Erinnerungen eines Europäers.
Parthas Verlag, Berlin 2004; 557 S., 38,- Euro