Das Parlament: Russland hat das 100-jährige Jubiläum der Staatsduma Ende April mit viel Pomp gefeiert. Dabei lag der russische Parlamentarismus nach 1917 für mehr als 70 Jahre auf Eis. Ist so eine 100-Jahr-Feier nicht übertrieben?
Wladimir Ryschkow : Nein. Für Russland war die erste Sitzung der Staatsduma von gewaltiger Bedeutung, etwa wie für Deutschland die Revolution von 1848 und das Parlament in der Frankfurter Paulskirche. Ihr gingen der verlorene Krieg gegen Japan 1904 und die Revolution von 1905 voraus, erst danach gab der Zar den Forderungen nach einer Verfassung und einem Parlament nach. Damals erhielten seine Untertanen das Recht, politische Vereinigungen zu gründen, Gewerkschaften wurden erlaubt, die Pressezensur wurde abgeschafft, im Winter 1905/1906 fanden die ersten politischen Wahlen statt. Russland bekam eine Legislative. Diese Freiheit währte zwar keine zwölf Jahre, 1917 errichteten die Kommunisten ihre Einparteiendiktatur. Aber wir können uns heute daran erinnern, dass Russland auch demokratische Traditionen hat.
Das Parlament: Russlands Demokratie erstand erst 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder...
Wladimir Ryschkow: Nein schon vorher - mit Gorbatschows Perestrojka. Er ließ die letzten politischen Straflager schließen, führte die Freiheit des Wortes wieder ein und ließ 1989 die ersten freien Wahlen zum Obersten Sowjet abhalten.
Das Parlament: Dieser Oberster Sowjet ging zusammen mit Gorbatschow in Rente. Erst unter Boris Jelzin gab es wieder eine Staatsduma, in der auch Sie schon saßen. Wie gut funktionierte dieses Parlament?
Wladimir Ryschkow: Jelzin war zehn Jahre Präsident. Man muss seine beiden Amtszeiten streng voneinander trennen. Bis 1995 war er ein demokratischer Reformer, beim Zerfall der Sowjetunion verhinderte er ein blutiges, jugoslawisches Szenarium, veranstaltete freie Wahlen zur neuen Staatsduma und das Referendum zur neuen Verfassung. Dass diese Verfassung für Russland gut gewesen ist, zeigt sich daran, dass sie heute, 13 Jahre später, noch in keinem Punkt verändert worden ist. Und in Jelzins erster Amtsperiode konnte die Opposition nicht nur in Ruhe arbeiten, sondern sogar Wahlen gewinnen. Zum Beispiel eroberten die Kommunisten und andere Oppositionsparteien bei den Wahlen zur zweiten Staatsduma 1995 die Mehrheit. Das schuf natürlich Probleme für Jelzin, das Land hat manchmal darunter gelitten, wir konnten jahrelang keinen neuen Bodenkodex verabschieden, weil sich die Kommunisten dagegen sträubten. Und der Staatshaushalt wurde regelmäßig mit Defizit verabschiedet, was 1998 zum Zusammenbruch der Wirtschaft führte. Aber es war eine Zeit funktionierender Demokratie, die Exekutive musste Rücksicht auf das Parlament nehmen. Und das Parlament garantierte verschiedenen politischen Kräften den Zugang zu den Staatsmedien, sicherte so den Pluralismus.
Das Parlament: Und was änderte sich in Jelzins zweiter Amtszeit?
Wladimir Ryschkow Nach seiner Wiederwahl 1996 suchte er immer mehr Rückhalt bei Sicherheitsleuten und Militärs. Nach dem Liberalen Kirijenko ernannte er nur noch Premierminister mit Geheimdiensterfahrung: Primakow, Stepaschin und schließlich Putin. Damals stieg auch der Druck Moskaus auf die Regionen. Und die dritte Duma, die Ende 1999 gewählt wurde, war bereits unter der Kontrolle des Kremls. Mit Putins Amtsantritt 2000 verstärkten sich die autoritären Tendenzen noch. Schauen Sie auf die vierte Duma: Die Mehrheitsfraktion "Einiges Russland", die 67 Prozent der Abgeordneten stellt, ist dem Präsidenten treu ergeben. Das gilt auch für die Vertreter der "Liberalen Partei" Wladimir Schirinowskijs; im Ergebnis gehorchen fast 80 Prozent der Deputierten den Weisungen des Kremls.
Das Parlament: Scheitert also das Experiment Demokratie in Russland erneut?
Wladimir Ryschkow Das hoffe ich nicht. Aber gewissermaßen wiederholt sich das Schicksal der zaristischen Staatsduma. Die erste Duma, die Anfang 1906 gewählt wurde, stand völlig in Opposition zum Zaren, er ließ sie nach drei Monaten auflösen und rief Neuwahlen aus, die er wieder verlor: Auch die zweite Duma opponierte gegen sein Kabinett, wieder ließ er sie auflösen. Und Premierminister Stolypin änderte das Wahlrecht so, dass es eine zarentreue Mehrheit garantierte. Die dritte Duma war also schon unter Kontrolle der Regierung. Und die vierte Duma war so auf Linie, dass man sie im Volk "chaluskaja Duma", Duma der Knechte, nannte. So wie heute die vierte Duma ein Instrument in der Hand des Kremls ist.
Das Parlament: Viele Beobachter vergleichen Putins Parlament sogar mit dem Obersten Sowjet der UdSSR...
Wladimir Ryschkow: Der oberste Sowjet war nicht mehr als die Imitation eines Parlaments. In der Putinschen Duma gibt es zumindest fragmentarisch noch Oppositionskräfte, die Kommunisten halten zehn Prozent der Sitze, es gibt noch sechs, sieben Liberale, zu denen auch ich gehöre, es gibt noch ein kleines Segment so genannter Patrioten in der "Vaterlands"-Fraktion. Putins Duma ist eher mit der späten zaristischen Duma vergleichbar. Vor allem was ihr Verhältnis zum Staatschef angeht. Wie damals der Zar ist heute der Präsident praktisch auch das Oberhaupt der Reigerung. Wie der Zar formiert er und nicht die Staatsduma das Kabinett, wie unter Nikolaj II. kontrolliert die Duma die Regierung faktisch nicht, auch ihre legislativen Vollmachten sind beschränkt, wie damals unterstützt sie in der Regel nur die Initiativen der Regierung und des Staatsoberhauptes.
Das Parlament: Warum dreht sich die russische Geschichte so offenbar im Kreis?
Wladimir Ryschkow: Weder damals noch heute ist das Parlament eine wirkliche Staatsgewalt geworden. In unserer politischen Kultur unterliegt das Parlament immer dem personalisierten Führer, ob Zar, Generalsekretär oder Präsident. Unser Volk glaubt offenbar viel mehr an einen starken Führer als an sich selbst. Hätte es mehr Selbstvertrauen, dann würde es seine Macht in größerem Maße an das Parlament, also den kollektiven Vertreter seiner selbst delegieren. In diesem Sinne dreht sich unsere Geschichte im Kreis.
Das Parlament: Im Gegensatz zum späten Zarentum wirkt Putins Regime stabil.
Wladimir Ryschkow: Ich würde Putins Sys-tem als Monopolbürokratie bezeichnen: Das Monopol des Beamtenapparates über die politische Macht. Sie hat ihre eigene Partei geschaffen, "Einiges Russland" - ein Instrument der Exekutive, um die Legislative zu kontrollieren -, das bereits rund eine Million Mitglieder zählt.
Das Parlament: Auch das Wahlrecht wurde geändert...
Wladimir Ryschkow: Es wird keine Abgeordneten mehr aus Sibirien, dem Fernen Osten oder dem Kaukasus geben, die ihre Heimat und ihre Gemeinden direkt im Parlament vertreten. Das ist gefährlich für ein großes, geografisch und ethnisch vielfältiges Land. Außerdem wurde eine Sieben-Prozent-Hürde eingeführt, um die Übermacht der herrschenden Partei gegenüber kleineren Oppositionskräften zu sichern. Es ist zu erwarten, dass bis zu 40 Prozent der Stimmen nicht mehr gerechnet werden, ein reichlich absurdes Wahlsystem, weil das Verhältniswahlrecht ja eigentlich garantieren soll, das der Wille möglichst aller Wähler berücksichtigt wird. Und das neue Parteiengesetz fordert auch bei Neugründungen mindestens 50.000 Mitglieder; es wird viel komplizierter eine Partei zu registrieren. All das spielt in die Hände der Bürokratie. Sie will ihre Macht halten, ohne sich kontrollieren zu lassen. Dafür riskiert sie die Legitimität der Macht und die Ganzheit des Landes.
Das Parlament: Was tut die Opposition dagegen?
Wladimir Ryschkow: Wir sind gezwungen nach den Regeln zu spielen, die uns die herrschende Bürokratie aufdrängt. Wir arbeiten daran, eine neue vereinigte demokratische Partei zu schaffen, die auch unter solch unkomfortablen Bedingungen in der Lage sein wird, die Sieben-Prozent-Hürde zu bewältigen.
Das Parlament: Sie sind einer der Führer der Republikanischen Partei. Werden Sie mit den "Volksliberalen" des Expremiers Michail Kasjanow zusammengehen?
Wladimir Ryschkow : Wir als Republikaner planen an den Duma-Wahlen 2007 teilzunehmen und schlagen allen Demokraten vor, eine vereinigte Partei zu schaffen, die alle Chancen hat, die Sieben-Prozent-Hürde zu nehmen und eine starke Fraktion in der künftigen Staatsduma herzustellen.
Das Parlament: Aber die Opposition hat seit Jahren keinen Zugang mehr zu landesweiten TV-Sendern, auch die überregionale Presse ignoriert sie demonstrativ.
Wladimir Ryschkow: Die wirkliche Opposition ist tatsächlich im nationalen Fernsehen verboten, auch im nationalen Radio, sie hat keine Möglichkeit sich an ein Massenauditorium zu wenden. Wir müssen unter diesen Bedingungen neue Methoden der Arbeit mit den Wählern entwickeln. Die Republikaner veranstalten russlandweite Protestaktionen zu verschiedenen Themen, Anfang April haben wir in 30 Stätten gegen Verteidigungsminister Sergej Iwanow und für die Reform der Armee demonstriert. Wir wollen das Internet noch intensiver nutzen, auch regionale Medien. Und die Erfahrungen unserer Vorgänger aus der zaristischen Staatsduma: Die hatten auch kein Fernsehen, arbeiteten deshalb aktiver in der Gesellschaft, trafen sich persönlich mit der Wählerschaft, gründeten Klubs, äußerten sich in regionalen Zeitungen. Es geht uns wie den großen Zigarettenfirmen, nachdem ihre Werbung im Fernsehen verboten worden ist: Wir müssen Phantasie entwickeln.
Das Parlament: Sie werden also auch weiter Politik machen, wenn sie nicht mehr in der Staatsduma sitzen?
Wladimir Ryschkow: Es ist nicht mein Lebensziel, Abgeordneter zu sein. Mein Ziel ist Demokratie in Russland. Wenn es die Monopolbürokratie nicht mehr zulässt, dass wir im Parlament arbeiten, machen wir außerhalb der Duma weiter. Bis wir in Russland Grundrechte und Gesetze durchgesetzt haben.
Das Interview führte Stefan Scholl