Wer eine Zeit im Ausland lebt, lernt seine Heimat besser kennen. Die langsam vertraut werdende Fremde schärft den Sinn für die Eigenheiten, das Sonderbare, aber auch für das scheinbar Gewöhnliche der eigenen Kultur. Der russische Germanist Gennadi Kagan kann davon ein Lied singen. Er hat allerdings auch irritierende Erfahrungen gemacht: Seit Jahren lebt er in Wien, doch das Österreich, das er erlebt, wirkt oft reichlich russisch. Mit spitzer Feder schildert Kagan in seinen kurzen Texten den Wiener Alltag. Er mokiert sich über das Gestrüpp der Bürokratie und macht sich über die Kaste der Rechnungs-, Wirtschafts- und Steuerprüfer lustig, die er schon aus Russland kennt.
Wo sich die Vöker unterscheiden, könnten sie sich gut ergänzen: Um die titelversessenen Österreicher flächendeckend mit Doktorgraden auszustatten, dränge sich eine Kooperation mit der russischen Titel-Mafia geradezu auf, kommentiert Kagan trocken. Übrigens entspreche die hohe Zahl kirchlicher Würdenträger in Österreich ungefähr der Zahl militärischer Würdenträger in Russland - "und manchmal sehen sie sich ziemlich ähnlich".
Da schmunzelt wohl weniger der österreichische oder russische, sondern am ehesten der deutsche Leser. Aber Vorsicht: Vielleicht ist das russische Österreich in seinem Wesen auch nur gründlich germanisch. Immerhin ist das Wienerische so etwas wie "Odessaer Deutsch", schreibt Kagan. Dem Langwörter- und Konsonantenliebhaber sind alle drei Länder jedenfalls eine wahre Wonne; Kagan erfreut sich an Schöpfungen wie den "Halbedelsteinlegearbeiten" oder dem "Fahrtreppenbenützer". Es lebe die Völkerverständigung!
Gennadi E. Kagan: Oh, du mein russisches Österreich. Böhlau Verlag, Wien 2005; 167 S., 19,90 Euro.