Mit zwei Demonstrationszügen begann am 23. Oktober 1956 in Budapest die "unerwartete" und "aussichtslose" ungarische Revolution. Initiatoren waren Studenten, die in den Straßen der Hauptstadt lautstark Freiheit skandierten. Auf ihren Transpareten stand: "Polen zeigt uns, dass es geht, folgen wir auf Ungarns Weg!" Aus dieser spontanen Kundgebung, die als Solidaritätsveranstaltung mit den polnischen Reformen begann, entwickelte sich binnen 24 Stunden der erste große militärische Aufstand im Ostblock.
Am Abend zuvor hatten die Studenten der Budapester Technischen Universität bei einer stürmisch verlaufenen Versammlung einen 16 Punkte umfassenden Forderungskatalog aufgestellt. Ganz oben auf der Liste stand der Abzug der sowjetischen Truppen. Danach sollte eine neue Regierung unter Führung des populären Reformkommunisten Imre Nagy gebildet werden. Gleichzeitig sollte die verbrecherische stalinistische KP-Führung zurücktreten. Weitere Programmpunkte waren: freie Wahlen, die Einführung eines Mehrparteiensystems, Meinungsfreiheit, die Entfernung des Stalin-Denkmals, die Wiedereinführung der ungarischen Nationalfeiertage und der nationalen Symbole.
Keine zwei Wochen später hatte die Sowjetmacht diesen Aufstand blutig niedergemetzelt. Die ungarische Nachrichtenagentur meldete am 4. November 1956: "Die sowjetischen Verbrecher haben uns betrogen (...). Die russischen Truppen haben plötzlich Budapest und das ganze Land angegriffen. Sie haben das Feuer auf jedermann in Ungarn eröffnet (...). Nagy und die Regierung sowie das gesamte ungarische Volk bitten um Hilfe (...) Lang lebe Ungarn und Europa!"
Der Journalist Paul Lendvai bezeichnet den Aufstand, der auch als ungarische Revolution in die Geschichte einging, als "größte Herausforderung der sowjetischen Hegemonialmacht in Osteuropa" und zugleich als "ein weithin sichtbares Symbol des Bankrotts des Sozialismus sowjetischer Prägung" nach dem Zweiten Weltkrieg. "Wir alle, die hinter Imre Nagy und der von ihm verkörperten Reformrichtung standen, hofften auf eine demokratische Umgestaltung des sozialistischen Modells", fügt der Augenzeuge hinzu. Lendvai gelang wenige Monate nach dem Aufstand die Flucht nach Österreich, wo er seitdem als Korrespondent in Wien tätig war. Mit einigem Erfolg: 1982 wurde er Chefredakteur des ORF und 1987 Intendant von "Radio Österreich international".
Danach fand Lendvai Zeit, eine hervorragende Studie über "Die Ungarn" (C.Bertelsmann, 1999) zu veröffentlichen. Jetzt hat der Journalist nachgelegt. Dabei herausgekommen ist ein wahres Meisterwerk über den "Ungarn-Aufstand 1956", das in jede anständige Bibliothek gehört. Lendvai beschreibt den Aufstand nicht nur als Augenzeuge, vielmehr hat er neben der umfangreichen Sekundärliteratur vor allem Archiv-Dokumente aus Ungarn und Russland ausgewertet.
Am Beispiel Ungarns analysiert Lendvai die Entwicklung Osteuropas in der Nachkriegszeit und offenbart dabei die ambivalente Haltung der freien Welt gegenüber der Sowjetunion. Detailliert zeichnet er die Motive und Beweggründe von Imre Nagy und den Moskautreuen ungarischen Kommunisten nach, die den "großen sozialistischen Bruder" um Hilfe gegen die "faschistische Konterrevolution" gebeten hatten. Kenntnisreich erläutert der Autor die nationalen "Besonderheiten" Ungarns und zeigt so, warum es ausgerechnet dort zum Aufstand kam.
Das "Ungarn-Syndrom" hat die spätere Politik Juri Andropows beeinflusst, der als sowjetischer Botschafter in Budapest die militärische Lösung befürwortet hatte. In der Folge setzte der Kreml auch während des Prager Frühlings 1968 und 1979 mit dem Afghanistan-Feldzug auf hartes Durchgreifen.
Jahres- und Gedenktage haben es an sich, dass mehrere Veröffentlichungen zum gleichen Thema erscheinen. So auch in diesem Fall: In seiner hervorragenden Chronik des Aufstands geht der Schriftsteller György Dalos der Frage nach, wer dieses "kollektive ‚Wir'" war, das die Ereignisse von 1956 als "Konterrevolution" bezeichnete und entsprechend handelte. Dalos, der bis 1999 als Leiter des ungarischen Kulturinstituts in Berlin tätig war, weist darauf hin, dass der Aufstand in der nationalen Erinnerung seiner Heimat wie ein "unterirdischer Bach" existiert: "Die Lüge über ihn war keineswegs obligatorisch, aber auch die Wahrheit niemals zugelassen". Auch Lendvai geht auf die unterschiedlichen Bewertungen des Aufstands ein: Sie reichen von "siegreicher Niederlage" bis zur "fantastischen Geschichte". Dabei vergisst der Journalist nicht zu erwähnen, dass die Ereignisse im Ausland moralisch höher bewertet wurden als in Ungarn selbst.
"Die Befreiung der versklavten Völker war und ist ein Hauptziel der amerikanischen Außenpolitik und wird es - bis der Erfolg errungen ist - bleiben." Dieser Satz aus der Regierungserklärung von US-Präsident Dwight D. Eisenhower vom Dezember 1955 findet sich in fast jedem Buch über den Kalten Krieg und die Aufstände in Osteuropa. In Ungarn ist er bis heute nicht vergessen. Als der Aufstand begann, versicherte der mächtigste Mann der freien Welt, das "Amerikas Herz für das ungarische Volk" schlage. Abgesehen von rhetorischen Einlassungen unternahmen die USA jedoch nichts gegen die militärische Niederwerfung des Aufstands. Woher sollten die Aufständischen auch wissen, dass Washington Nikita Chruschtschows Doktrin vom Erhalt des Status quo, der "Nichteinmischung" in die jeweilige Einflusszone und der so genannten "friedlichen Koexistenz" abgenickt hatte?
Bis heute ist in Ungarn die passive Haltung der US-Regierung ein Thema, ebenso wie die Handlungsweise des vom US-Kongress finanzierten Radiosenders "Free Europe/Radio Liberty". Dieser hatte vom sicheren München aus die Ungarn zum Kampf aufgerufen. Auch diesen unbequemen Fragen um den "verratenen Aufstand" spüren Paul Lendvai und György Dalos nach. Dass sich dieses finstere Kapitel noch nicht erledigt hat, erfuhr US-Präsident George W. Bush im Juni 2006 bei seinem Besuch in Budapest. Die Veteranen des Aufstands verlangten von ihm eine offizielle Entschuldigung für das Verhalten der USA während der Ungarn-Krise vor 50 Jahren. Selbst Präsident Boris Jelzin hatte sich im Namen Russlands entschuldigt. Präsident Bush lehnte dieses Ansinnen jedoch ab. Vermutlich wollte er sein Land nicht auf die gleiche Stufe mit der Sowjetunion stellen, schließlich war der Aufstand auf Geheiß Moskaus blutig niedergeschlagen worden.
Der Ungarn-Aufstand und seine Niederschlagung war eine bittere Lehre für osteuropäische Demokraten und Regimekritiker, die jede Hoffnung auf Hilfe aus der freien Welt fahren lassen mussten. Wer sich retten konnte, ging in den Westen. Dort trafen sie in Politik und Medien auf vielfache Bewunderung: Immerhin hatten es die Ungarn gewagt, sich gegen die mächtige Sowjetunion aufzulehnen. Aber das war es dann auch. Derweil ging der mit Hilfe der sowjetischen Panzer an die Macht gelangte János Kádar daran, das sozialistische System mit tausenden Todesurteilen zu "stabilisieren". Nach dieser Liquidierungswelle begann der sozialistische Alltag. Moskau genehmigte den Ungarn einen konsumfreundlicheren Kurs, der auch als "Gulaschkommunismus" in der "fröhlichsten Baracke" des Warschauer Pakts bekannt wurde.
Paul Lendvai: Der Ungarn-Aufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen. C. Bertelsmann Verlag, München 2006; 320 S., 50 s/w Abbildungen, 22,95 Euro.
György Dalos: 1956. Der Aufstand in Ungarn. Verlag C.H. Beck, München 2006, 246 S., 16 Fotos von Erich Lessing, 19,40 Euro.