Martin Heidegger soll einmal gesagt haben, Krisen sind die "Abmahnungen des Seins". Wenn dem so ist, dann hat die realsozialistische Wirklichkeit im Krisenjahr 1956 die in Osteuropa und der Sowjetunion herrschenden Stalinisten kräftig abgemahnt. Wir wissen zwar heute ziemlich genau über die internationalen Rahmenbedingungen des Jahres 1956 - unter anderem der 20. Parteitag der KPdSU mit der Chruschtschow-Rede über Stalins Verbrechen, die Suez-Krise, die Oktoberumwälzung in Polen und die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands - Bescheid, jedoch bedarf der diese Ereignisse reflektierende innergesellschaftliche Diskurs etwa in der DDR noch der stärker differenzierenden Analyse. Hier muss noch manches Schwarz-Weiß-Bild durch Grautöne aufgelockert werden.
Der Berliner Zeithistoriker Siegfried Prokop - im Westen gelegentlich verwechselt mit dem berühmten West-Ost-Wanderer, dem Forensiker Otto Prokop - will nun ein derartiges Forschungsdesiderat beseitigen, in dem er die Diskussion in jenen intellektuellen Zirkeln der DDR nachzeichnet, die - wie der bekannte Dissident Gustav Just, in dieser Zeit stellvertretender Chefredakteur des keinesfalls auf Linie liegenden Wochenblattes "Sonntag", in seinem nostalgisch-bitteren Vorwort schreibt - die DDR keineswegs abschaffen, jedoch von Grund auf reformieren wollten. Und das ist ihm im Großen und Ganzen auch gelungen.
Im ersten Sachkapitel fasst der Autor zusammen, was in den wenigen Reformmonaten nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 auf allen gesellschaftlichen Gebieten in akademischen und künstlerischen "Kreisen", "Zirkeln", "Gesprächsrunden" und sonstigen eher privaten Debattierclubs so diskutiert wurde. Dabei fällt hier und auch später dem nicht vorinformierten Leser die Einschätzung der politischen Bedeutung dieser "Kreise" und damit ihrer Programme und Ideen schwer, weil Prokop dazu leider keinerlei Aussagen macht.
In zwei weiteren Kapiteln geht der Autor dann am Beispiel des "Kreises der Gleichgesinnten" (Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, Günter Schubert, Heinz Zöger) und der damaligen Debatten im "Kulturbund der DDR" ins Detail und zeichnet, teilweise in chronologischer Tagebuchform, die Begegnungen, Pro-grammdebatten und Kontakte auch zu einflussreichen, aber am Rande bleibenden Figuren - zum Beispiel Berthold Brecht - nach. Das alles kann hier nicht wiedergegeben werden. Manches ist richtig spannend.
Bekannt ist, welchen Einfluss der große, von den Stalinisten verfemte Georg Lukács ("Geschichte und Klassenbewußtsein",1923) stets und besonders auch 1956 auf marxistische "Abweichler" ausgeübt hat. Umso verwunderlicher und zu beklagen ist, dass Prokop in seinen im Anhang versammelten biografischen Kurznotizen keine Zeile für Lukács, aber viele zum Beispiel über die furchtbare Hanna Wolf übrig hat.
Neu war für den Rezensenten, welchen Wirbel nicht nur im Westen, sondern tief wirkender noch in der DDR jenes berühmte Interview des italienischen KP-Chefs Palmiro Togliatti vom Juni 1956 ausgelöst hat. Er hatte darin kritisiert, dass der Diktator Stalin erst für alles gelobt und nun wieder für alles allein verantwortlich gemacht wird. Togliatti ging vielmehr auf die Suche nach den Strukturdefekten des Stalinschen Systems - und das ging natürlich auch der SED an die Nerven. Dankbar registriert man ferner, dass Prokop eine drohende Geschichtsklitterung korrigiert. Nach dem gescheiterten Ungarn-Aufstand setzte auch in der DDR die ideologische und administrative "Gegenrevolution" ein. Die SED-Führung beendete alle Reformdebatten, eine neue Frostperiode löste das kurze Tauwetter ab.
Tiefpunkt und Ausdruck der Rache des Systems waren die ekelerregenden Schauprozesse unter anderem gegen Harich, Janka und Just. Dass nun die auch für Ulbricht unantastbare Anna Seghers bei der Urteilsverkündung gegen Walter Janka einem seiner frühen Bericht zu Folge nur betreten zu Boden geschaut habe, beschreibt Prokop nun als eine Art Wahrnehmungsfehler, geschuldet der Aufregung und dem Zorn des Verurteilten. Tatsächlich hat die Seghers, bestätigt durch Stasi-Beobachter, im Gerichtssaal ihre Ablehnung des Urteils und ihre Sympathie mit dem Angeklagten sichtbar zu erkennen gegeben.
Auch ein wenig methodische Kritik ist fällig. Prokop gibt Gespräche in einer Form wieder, die sie fast wörtlich-authentisch erscheinen lassen, obwohl er sie aus Aufzeichnungen der Beteiligten, sicher redlich und kritisch bemüht, rekonstruiert hat. Hier bleibt also Skepsis gegenüber dem angebracht, was als historische Wahrheit daherkommt. Man wird dann entschädigt durch 50 Seiten Anhang, in dem Prokop bisher weithin unbekannte Dokumente, Resultate seiner fleißigen Archivsuche, versammelt hat.
Stand die DDR 1956 am Scheideweg? Ein Scheideweg setzt voraus, dass der Wanderer zwischen zwei oder mehreren Laufalternativen entscheiden kann. 1956 wusste aber nicht nur die SED-Führung nicht, wie es weitergehen sollte. Auch die intellektuelle Dissidenz wusste es nicht. Diese hatte zwar unzählige Konzepte diskutiert, aber letztlich war auch sie ratlos - von den Utopisten wie Harich abgesehen. Es war eher eine schwere Systemkrise, schwerer vielleicht noch, als die fünf Jahre später vom Mauerbau ausgelöste. Aber aus beiden haben die deutschen Stalinisten nichts gelernt.
Siegfried Prokop: 1956 - DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz. Kai Homilius Verlag, Berlin 2006; 378 S., 19,90 Euro.