Winfried Hassemer, immer für eine amüsante Übersetzung höchstrichterlicher Gedanken gut, griff dankbar Berlins Slogan "Arm, aber sexy" auf. Vielleicht sei Berlin ja deshalb so sexy, "weil es so arm gar nicht ist", mutmaßte der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverkündung am vergangenen Donnerstag. Dann folgten 109 Seiten anspruchsvolle, aber klare Juristenprosa, an deren Ende vor allem eine Botschaft stand: Das Land Berlin bekommt vom Bund kein weiteres Geld - eine "extreme Haushaltsnotlage" ist nicht zu erkennen.
Für Berlin hat sich damit die Hoffnung auf einen einfachen Ausweg aus der erdrückenden Schuldenlast von gut 60 Milliarden Euro zerschlagen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) zeigte sich - gemessen an der Dramatik, mit der er die Finanznöte Berlins beschworen hatte - wenig erschüttert von dem Karlsruher Spruch. Und sein Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) kündigte sogleich an, verstärkt das zu tun, wofür er sich bundesweit Anerkennung erworben hat: nämlich Sparen.
Über den - ziemlich eindeutigen - "Berliner Teil" des Urteils hinaus enthält das Urteil einige grundsätzlichen Aspekte, die für die finanzielle Solidarität im Bundesstaat durchaus Konsequenzen haben dürften. Zwar ist der Bundeshauptstadt ein Anspruch auf Bundeszuweisungen zur Haushaltssanierungen auch aus Gründen versagt geblieben, die einerseits hausgemacht sind, andererseits mit der allgemein angespannten Finanzlage zu tun haben. Berlin hat dem Urteil zufolge ein Ausgabenproblem und hat - verglichen mit dem Stadtstaat Hamburg - beträchtliches Einsparpotenzial. Zudem ist für die Feststellung einer "extremen Haushaltsnotlage" - Voraussetzung für die Gewährung von Sanierungshilfen - der "relative Aspekt" mitentscheidend. Mit anderen Worten: Wenn die Finanzlage im Länderdurchschnitt angespannt ist, kann ein Land nur dann Bundesmittel beanspruchen, wenn es deutlich darunter liegt - also bei einer nicht anders zu behebenden Existenzbedrohung.
Darüber hinaus macht das Urteil allerdings deutlich, dass - verglichen mit dem Urteil zur Haushaltsnotlage in Bremen und im Saarland aus dem Jahr 1992 - auch der juristische Maßstab strenger geworden ist. Bundeszuweisungen als Sanierungshilfe passen eigentlich nicht ins System des Finanzausgleichs - sie sind ein "Fremdkörper", lautet das Fazit der Karlsruher Richter. Entweder honorieren sie eine übermäßige Ausgabenpolitik und verursachen damit einen "Hängematteneffekt", oder sie verhindern, dass eine im Verteilungssystem bedingte unzureichende Finanzausstattung an der Wurzel behoben wird. Denn bevor der Bund als Nothelfer in die Bresche springt, muss zunächst überprüft werden, ob an anderen Stellschrauben des Finanzausgleichs - etwa bei der Umsatzsteuerverteilung - gedreht werden muss.
Bremen und das Saarland, die ebenfalls in Karlsruhe Klage erhoben haben, werden sich also auf heftigen Gegenwind einstellen müssen. Denn der Zweite Senat hat mit seiner Entscheidung zugleich die für manchen bittere Konsequenz aus der Eigenstaatlichkeit der Bundesländer gezogen: Wer autonom über Politik und Finanzen entscheidet, muss auch die Folgen tragen, wenn die Sache schief läuft.
Zugleich fordert das Gericht, dass in einer Zeit, in der sieben von 16 Bundesländern keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr aufstellen können, auch gewisse Warnsysteme ins föderale System eingebaut werden müssen. Schon 1992, als das Gericht Bremen und dem Saarland Bundeshilfen zugestanden hatte, hatten die Richter Vorsorgemaßnahmen für Haushaltskrisen angemahnt. Diesmal formulierten sie einen regelrechten Arbeitsauftrag an die Politik. Die Bestrebungen, bei der zweiten Stufe der Föderalismusreform auch Konzepte zur Vorbeugung von Haushaltskrisen zu schaffen, seien "angesichts der gegenwärtig defizitären Rechtslage erforderlich".
Beispiel Transparenz: Seit 1992, so kritisieren die Richter, ist es nicht einmal gelungen, die Systematik der Haushalte so aufeinander abzustimmen, dass daraus ohne statistische Bereinigung ein Vergleich der Etatpolitik möglich ist. Überhaupt liest sich das Urteil aus der Feder der schnörkellos argumentierenden Verfassungsrichterin Lerke Osterloh wie ein Plädoyer für mehr Klarheit im nur scheinbar undurchdringlichen Geflecht des Finanzausgleichs. Zugleich aber wird durch das Urteil der Karlsruher Richter eines deutlich: Die Lösung der Probleme liegt in erster Linie in Händen der Politik.