Das Foyer des Paul-Löbe-Hauses in Berlin gleicht an diesem nebligen Samstagnachmittag eher dem Eingangsbereich einer Jugendherberge als dem eines Abgeordnetenhauses: Mehr als 300 Jugendliche drängen mit Rucksäcken und Koffern durch die Sicherheitsschleusen am Eingang West die breite Treppe zum Empfang hinunter, wo sie von Mitarbeitern des Besucherdienstes des Bundestages begrüßt werden.
Aus ganz Deutschland sind die Jugendlichen angereist, um drei Tage lang in einem Planspiel das Gesetzgebungsverfahren im Parlament zu simulieren. Dabei übernehmen sie selbst die Rolle von Abgeordneten, bilden ein Kurzzeit-Parlament, in dem es Landesgruppen und Ausschüsse gibt - wie im "echten" Bundestag eben.
Voraussetzung für die Teilnahme: die persönliche Einladung durch einen Bundestagsabgeordneten. Dabei steht den fünf Fraktionen eine ihrer Stärke im Bundestag entsprechende Anzahl von Plätzen zur Verfügung. Isabell Schatz (20) aus Stockach am Bodensee zum Beispiel wurde von dem CDU-Abgeordneten Andreas Jung eingeladen. Sie war ihm aufgefallen, weil sie einen Schulwettbewerb gewann, für den er einen Buchpreis gestiftet hatte. Auch Corado Stock ist glücklich darüber, Bundestagsluft zu schnuppern. Der 16-jährige Vorsitzende des Jugendparlaments in Halberstadt ist auf Einladung des SPD-Abgeordneten Andreas Steppuhn nach Berlin gekommen. Sein Berufswunsch steht bereits fest: Politiker.
Ziel des Planspiels "Jugend und Parlament" ist es, den Weg der Gesetzgebung für Jugendliche nachvollziehbar zu machen. Die Teilnehmer sollen die Arbeitsweise des Deutschen Bundestages kennen lernen - an Originalschauplätzen im Bundestag, den die meisten bislang nur aus der "Tagesschau" kennen.
Schon gleich bei der Ankunft im Paul-Löbe-Haus werden die Rollenprofile verteilt: Jeder Jugendliche wird mit einer neuen Biografie und politischen Gesinnung ausgestattet und einer der fünf fiktiven Fraktionen des Planspiels zugewiesen. Nur den Namen des Abgeordneten, den sie verkörpern, dürfen sich die Teilnehmer selbst aussuchen.
Klar, dass die neuen Rollen erstmal für einige Aufregung sorgen. "Oh je, ich bin 49 Jahre alt und zweimal geschieden", erzählt kichernd eine Schülerin, die sich mit einer anderen in eine der Sitzecken im Foyer zurückgezogen hat. "Und weißt Du, woran meine Ehen gescheitert sind? Weil ich mich nur noch um Politik gekümmert habe." So ganz leicht scheint es ihr nicht zu fallen, sich mit der ehrgeizigen Endvierzigerin, die sie verkörpern soll, zu identifizieren.
Doch genau das ist gewollt, wie Gerda Hasselfeldt (CSU), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, bei der Begrüßung betont. Die findet im Plenarsaal statt - eine große Ehre für die insgesamt 308 Jugendlichen. Normalerweise darf außer den "echten" Abgeordneten sowie den Mitgliedern von Bundesregierung und Bundesrat niemand das Plenum betreten. "Ich bitte Sie ganz herzlich, Ihre Rollen zu akzeptieren, ja fast ein wenig zu verinnerlichen, auch wenn das zunächst einmal ungewohnt ist", so Hasselfeldt. "Sie werden merken, dass Sie die meisten Eindrücke von der politischen Arbeit mitbekommen, wenn Sie sich mit dieser Rolle identifizieren."
Das Programm ist dicht gedrängt, ein Termin jagt den nächsten: Landesgruppensitzungen, Fraktionssitzungen, Arbeitsgruppensitzungen, Ausschusssitzungen. Erschöpfung ist nach dem ersten Sitzungsmarathon aber den wenigsten anzumerken. Eloquent und zielstrebig treibt Rainer Vortmann, Fraktionsvorsitzender der Konservativen Volkspartei (KVP) und im wirklichen Leben 18-jähriger Schüler in Bremen, seine Kollegen im Fraktionssaal der CDU/CSU im Reichstagsgebäude durch die Tagesordnung: Immerhin vier Gesetzesanträge und -initiativen stehen zur Diskussion. Schade nur, dass es lediglich eine Frau in den Fraktionsvorstand der KVP geschafft und dort auch nur den Job der Schriftführerin abbekommen hat, wie sie etwas enttäuscht berichtet.
Die Frauenquote sieht im Fraktionsvorstand der Arbeiterpartei Deutschlands (APD), die im Fraktionssaal der SPD tagt, zwar etwas besser aus. Dafür haben sich hier die Fraktionsmitglieder so über den Anträgen zerstritten, dass sich die Vorsitzende gezwungen sieht, die Sitzung vorübergehend zu unterbrechen. Keine ganz einfache Situation für die so genannten Teamer, die im Auftrag des Bundestages das Planspiel inhaltlich begleiten. Es ist zwar gewünscht, dass die Teilnehmer Konflikte wie im wirklichen politischen Leben auch austragen - aber bitte schön immer im Rahmen der Spielregeln. Doch die Teamer kennen solche Situationen: Seit 1991 führt der Besucherdienst "Jugend und Parlament" durch. Zudem gibt es eine "abgespeckte" Version des Planspiels. "Parlamentarische Demokratie spielerisch erfahren" heißt die eintägige Veranstaltung, die der Besucherdienst für Schulklassen aus ganz Deutschland immer montags und dienstags organisiert.
Eindrücklicher ist aber sicherlich die dreitägige Variante des Planspiels. Zumal es am letzten Tag noch ein Highlight gibt: Eine Podiumsdiskussion mit den Vorsitzenden der fünf im Bundestag vertretenden Fraktionen im Plenarsaal zum Thema: "Unabhängiges Mandat oder Fraktionsdisziplin?" Moderiert wird die Veranstaltung von Thomas Roth, dem Leiter des ARD Hauptstadtstudios. Vor allem die Rolle der Opposition beschäftigt die Jugendlichen nach den Erfahrungen des Planspiels. Ob es nicht frustrierend sei, in der Opposition zu sein und kaum Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess nehmen zu können?", fragt eine junge Frau. Dem widersprechen die drei Vertreter der Oppostionsfraktionen energisch. "Die Oppostion hat die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren und den Finger auf offene Wunden zu legen", sagt Renate Künast, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Guido Westerwelle (FDP) bläst ins selbe Horn: "Wer Oppositionsarbeit frustrierend findet, kann es ja lassen", sagt er unter zustimmendem Gelächter im Plenum.
Nicht nur die Politiker finden ihre Arbeit spannend, auch die Jugendlichen wie Isabell Schatz und Corado Stock sind begeistert. "Für mich war der ganze Besuch in Berlin ein Highlight", schwärmt Schatz. Besonders genossen hat die junge Frau die spannenden Diskussionen mit den anderen Teilnehmern. Für Stock hingegen war es sehr interessant, den Tagesablauf eines Politikers zu erleben. "Dabei merkt man auch, wie anstrengend dieser Job ist", meint er. In seinem Berufswunsch Politiker fühlt er sich dennoch bestärkt: Als nächstes will er ein Praktikum im Berliner Abgeordnetenbüro von Andreas Steppuhn machen.