In deutschen Parlamenten werden Reden selten simultan gedolmetscht. Aber an diesem Montagmorgen im sächsischen Landtag wundert das niemanden. Im Plenarsaal sitzen 52 deutsche und russische Heranwachsende und lauschen Landtags-Vizepräsidentin Regina Schulz, die das "1. Deutsch-Russische Jugend- und Schülerparlament" am 9. Oktober eröffnet.
Doch die feierliche Stimmung wird durch den am Vortag bekannt gewordenen Mord an der regimekritischen russischen Journalistin Anna Politkowskaja getrübt. Hans-Friedrich von Ploetz, Geschäftsführer der "Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch", die das Parlament ausrichtet, lässt eine Gedenkminute einlegen. Sein Amtskollege auf russischer Seite, Andrej Netschajew, ermutigt die Nachwuchs-Abgeordneten, bei ihren Beratungen stets offen ihre Meinung zu sagen: "Die schlimmste Form der Zensur ist die Selbstzensur."
Seine Zuhörer nehmen ihn beim Wort. Das zeigt die anschließende Debatte im überlaufenen "Parlaments-Ausschuss" zum Thema Pressefreiheit. Die 24-jährige Russin Maria studiert derzeit Jounalistik in Berlin und berichtet nebenbei für die Agentur "RIA Nowosti". Nach Artikeln über russische Rechtsextremisten habe sie selbst Morddrohungen erhalten, berichtet sie. Ohnehin seien die Arbeitsbedingungen in ihrer Heimat sehr schwierig, so Maria: "Wenn ich etwas wissen möchte, bekomme ich hier meine Informationen. In Russland mauern die Behörden nur."
Solche Zustände lösen bei ihren deutschen Altersgenossen empörtes Kopfschütteln aus. Die Tatsache, dass seit 2005 schon fünf russische Journalisten umgebracht wurden, werde hierzulande kaum beachtet, beklagt der 20-jährige Pfadfinder Timo. Dagegen hält der 18-jährige Leipziger Waldorf-Schüler Otto den Vorschlag aus der Runde, eine Protestnote an die russische Regierung zu richten, für aussichtslos: Der Kreml werde sich "von einem Jugendparlament nicht in sein Überwachungssystem reinreden lassen".
Seine Skepsis ist berechtigt, wie am Folgetag deutlich wird: Die Wunschliste der Jungparlamentarier nehmen Russlands Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich entgegen. Beide besuchen den "Petersburger Dialog", die alljährliche Konferenz von Vertretern der deutschen und russischen Zivilgesellschaft, die wie das Jugendparlament am 9. und 10. Oktober in Dresden stattfand. Als der zum "Parlamentssprecher" gewählte 22-jährige Student Rainer vorträgt, "ein sehr wichtiges Thema" sei "vor dem Hintergrund der Ereignisse die Presse- und Meinungsfreiheit", bleibt Putins Miene unbewegt. In seiner Antwort geht er mit keiner Silbe darauf ein.
Mehr Aufmerksamkeit widmen die Regierungschefs der Forderung nach Reiseerleichterungen für Jugendliche. Zwar hat das seit Ende 2004 geltende deutsch-russische Abkommen über jugendpolitische Zusammenarbeit die Erteilung von Visa vereinfacht, doch die hohen Gebühren werden Heranwachsenden nur erlassen, wenn sie an einem offiziell geförderten Austauschprogramm teilnehmen. "Russland arbeitet auf einen visafreien Reiseverkehr hin", beteuert Putin, aber zuvor müsse es seine "Grenzsicherheit garantieren", was noch viel "Geld und Zeit erfordert". Merkel betont, dieses Problem sei "in der Praxis sicherlich nicht so ganz einfach zu lösen", denn "wir müssen darauf achten, dass kein Missbrauch betrieben wird".
Solche Einschränkungen haben die bilateralen Jugendkontakte in jüngster Zeit zu einer ziemlich einseitigen Angelegenheit werden lassen. Während der Andrang junger Russen auf Stipendien und Praktika in der Bundesrepublik ungebrochen ist, hat auf deutscher Seite das Interesse an Russland stark nachgelassen. 1992 lernte noch mehr als eine halbe Million der hiesigen Schüler Russisch; mittlerweile ist ihre Zahl auf etwa ein Viertel gesunken.
So büffeln in Sachsen nur noch drei Prozent aller Schulpflichtigen Vokabeln auf Kyrillisch. Auch die wissenschaftliche Slawistik leidet unter mangelnder Nachfrage: Mehrere Universitäts-Fakultäten wurden bereits geschlossen oder zu einem einzigen Studiengang pro Bundesland zusammengelegt. Derweil stagniert die Zahl deutscher Schüler, die ein Austauschjahr in Russland verbringen, bei rund 4.000 - trotz zahlreicher Initiativen, die einen derartigen Aufenthalt organisieren.