Anlass der derzeitigen Debatte um so genannte neue Armut und damit auch für die von Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion beantragte Aktuelle Stunde ist eine bislang unveröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Unter dem Titel "Gesellschaft im Reformprozess" hatte die Stiftung die Reformbereitschaft der Deutschen untersucht und im Frühjahr dieses Jahres etwa 3.000 wahlberechtigte Deutsche befragt. Dabei machten die Wissenschaftler neben acht anderen "politischen Typen" auch die Gruppe des "abgehängten Prekariats" aus. Sie weist den höchsten Anteil an Arbeitslosen auf, ist stark ostdeutsch und männlich dominiert - und mehrheitlich unzufrieden mit der Arbeit der Großen Koalition. Bei der Ebert-Stiftung ist man über die heftige Debatte erstaunt, die die Studie ausgelöst hat - zumal sie erst im Dezember veröffentlicht werden soll. In einem Interview mit "inforadio" wies der zuständige Mitarbeiter der Stiftung, Frank-Dieter Karl, darauf hin, dass nur "ein Teilaspekt der ganzen Untersuchung" in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt worden sei. Das Ergebnis der Studie sei "weitaus umfangreicher".
Doch auch ein Ausschnitt der Untersuchung war durchaus ausreichend für eine zum Teil erbittert geführt Debatte. Die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, bilanzierte, die soziale Angst sei "nicht vom Himmel gefallen"; vielmehr hätten "Wirtschaft und die herrschende politische Klasse" sie "massiv befördert". Unions-Sozialexperte Ralf Brauksiepe (CDU) machte dagegen andere für das Problem verantwortlich: Im Osten hätten die Vorgänger der Linkspartei "40 Jahre mit eiserner Knute" geherrscht und so zur Situation in den neuen Ländern beigetragen. Er griff Die Linke frontal an: "Sie sind Brandstifter, die sich als Feuerwehr aufspielen!" Auch die rot-grüne Vorgängerregierung sei mitverantwortlich für Armut - zwischen 1998 und 2003 sei die Armut gestiegen.
Forderungen nach einem Wechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wies der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres (SPD) zurück. Es sei "plumper Populismus", die Hartz IV-Reformen für die wachsende Armut verantwortlich zu machen. "Platte Rezepte" würden nicht helfen, man müsse vielmehr am Prinzip des "Förderns und Forderns" festhalten. Grünen Fraktionschef Fritz Kuhn teilte zwar die Position, "Hartz IV" habe die verdeckte Armut deutlich reduziert, warf der Großen Koalition aber vor: "Sie sind beim Fordern stark gewesen, aber beim Fördern sind Sie abgestürzt." FDP-Generalsekretär Dirk Niebel warnte, das "weitere Verteilen von Staatsknete" sei der falsche Weg. Die Armut in Deutschland sei das "Ergebnis falscher Politik". Nun müsse man sich da-rauf konzentrieren, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, um den Menschen "soziale Teilhabe durch Arbeit" bieten zu können. Je mehr Menschen in Abhängigkeit zum Staat gerieten, desto stärker werde auch der Verlust des Antriebs.
Sowohl Sprecher der Grünen als auch der Linksfraktion kritisierten, Union und SPD schürten immer wieder eine "populistische Debatte" um den Missbrauch von Leistungen. Linksfraktionschef Gregor Gysi räumte zwar ein, dass es Missbrauchsfälle gebe - sie dürften aber nicht zum Maßstab gemacht werden. Er warnte vor einer Verschärfung des Problems. Viele Menschen gerade im Osten würden von den demokratischen Parteien nicht mehr erreicht, gingen nicht mehr zur Wahl oder wählten rechtsextreme Parteien. Gysi: "Das wird in einer Katastrophe enden."