In Frankreich sind die Fronten übersichtlich. Hierzulande drängt alles in die Mitte, die man links des Rheins so gar nicht kennt. Dort sortiert sich das Spektrum zwischen Rechten und Linken, außerdem gibt es die extreme Rechte um Jean-Marie Le Pen und die vorwiegend trotzkistisch geprägte extreme Linke. Bei so präzisen Lagerbildungen mutet erstaunlich an, was sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Ende April tut: Da muss sich die sozialistische Bewerberin Ségolène Royal von einer TV-Moderatorin fragen lassen: "Sind Sie überhaupt noch links?" Die Regentin der Region Poitou-Charente erregt Aufsehen mit ihrer Idee, straffällig gewordene Jugendliche in Internate unter Militärregie einzuweisen und entsprechender Disziplin zu unterwerfen. So genannte "überforderte" Eltern sollen einem Vormund unterstellt und gegebenenfalls zu Erziehungskursen verpflichtet werden. Obendrein sät sie Zweifel an der 35-Stunden-Woche, dem Renommierprojekt der bis 2002 amtierenden linken Regierung unter Lionel Jospin.
Auch wenn Royal solche Thesen angesichts der Proteste in ihrer Partei etwas relativiert hat: Die Sozialis-tin spielt mit der Rolle der Hardlinerin und wildert so auf rechtem Terrain. "Ist denn ,Disziplin' ein Wort der Rechten?", fragt sie. Doch auch Innenminister Nicolas Sarkozy, der mit brennendem Ehrgeiz Jacques Chiracs Nachfolge im Elysée anpeilt, schlägt Volten. Bislang steht "Sarko" für die Kombination aus Wirtschaftsliberalismus und Null-Toleranz-Repression im Innern: Rigide lässt er die Polizei in aufrührerischen Vorstädten durchgreifen, Richter beäugt er wegen angeblich zu milder Urteile, illegaler Immigration sagt er den Kampf an. Hämisch kommentiert Sarkozy die neuen sozialistischen Töne zur Innenpolitik: "Willkommen im Club, Madame Royal!" Nun aber verheißt der Minister Hilfen der Regierung für Einkommensschwache in Milliardenhöhe und entdeckt plötzlich sein Herz für Schulkinder, deren ausländische Eltern keinen legalen Status haben: Sie sollen von Abschiebungen verschont bleiben.
Die eine blinkt rechts, der andere links: Die Fronten scheinen zu bröckeln, und politisch könnte dieser Wahlkampf die Lagerbildung auf längere Sicht aufbrechen. Solche substanziellen Umbrüche stehen jedoch noch im Schatten des Showdowns beim Clinch ums höchste Staatsamt. Für Spannung sorgt besonders der kometenhafte Aufstieg Royals, die sich als Shootingstar der Saison entpuppt und als Medienliebling Fernsehsendungen wie Zeitungscover beherrscht. Glaubt man Umfragetrends, werden erstens Royal und Sarkozy die Kandidaten der Linken und Rechten und zweitens könnte die Sozialistin in einer Stichwahl knapp die Nase vorn haben. Freilich ist der Demoskopie nicht unbedingt zu trauen. Bei den Sozialisten steht der wahre Härtetest am 16. November an, wenn die Parteimitglieder in einer Urabstimmung den Präsidentschaftsbewerber küren. Rechts fallen die Würfel Anfang nächsten Jahres.
Als Kontrahenten Royals, einst im Beraterstab François Mitterrands und mehrmals Ministerin, agieren Ex-Premier Laurent Fabius und Dominique Strauss-Kahn, unter Jospin Superminister für Wirtschaft und Finanzen. Werden Fabius und Strauss-Kahn in den Medien gern wenig schmeichelhaft als mausgraue Elephanten tituliert, so firmiert Royal als "Madonna", "Schneewittchen", "Fee" oder "Gazelle" - da schwingt Spöttisches mit, gleichwohl klingt es irgendwie positiv. Es ist das Image des Frischen, des Unkonventionellen, das Royal punkten lässt.
Heiklen Streitgesprächen mit TV-Journalisten geht die Sozialistin möglichst aus dem Weg. Sie will vor allem auf öffentlichen Meetings Bürgernähe demonstrieren und Hände schütteln. Ein besonderer Reiz und Anlass für manche popularitätssteigernde Medienstory: Sie ist liiert und hat vier Kinder mit François Hollande, dem Vorsitzenden der Sozialistischen Partei - eine einzigartige Konstellation, die für Irritationen sorgt, letztlich aber Royals Ambitionen befördert. Sie redet davon, sich um "die wirklichen Sorgen der Menschen" kümmern zu wollen.
Sollte die Favoritin die Urabstimmung gewinnen, so kann sie Sarkozy offensiv herausfordern: Der Innenminister hat schwere Krisen und Fehlschläge der rechten Regierung mitzuverantworten - die Ablehnung der EU-Verfassung in einem Referendum, die Unruhen in den Vorstädten, den Volksaufstand gegen die Abschaffung des Kündigungsschutzes für junge Leute. Doch "Sarko" ist ein dynamischer Wahlkämpfer. Einmal Kandidat, könnten ihm Chirac und Premier Dominique de Villepin als seine Intimfeinde auch keine Knüppel mehr zwischen die Beine werfen.
Aber wird Sarkozy auf den Schild gehoben? Villepin dürfte wegen der undurchsichtigen "Clearstream-Affäre" aus dem Rennen sein. Dass sich Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie ins Gespräch brachte, ist wohl auch keine Gefahr. Plötzlich rätselt Paris jedoch, ob Chirac, eigentlich längst abgeschrieben, noch einmal antritt. Ex-Premier Jean-Pierre Raffarin verweist auf dessen Autorität als Staatsmann und schließt eine Kandidatur "absolut nicht aus". Er sei "oft aus dem Nirgendwo" zurückgekommen, schreibt "Le Monde".
Der Präsident will sich Anfang 2007 erklären. Sollte Chirac tatsächlich den Hut in den Ring werfen, wäre er nach Newcomerin Royal der zweite Shootingstar der Saison. Nichts erscheint unmöglich.