Die wohlhabenden Schwaben kleckern nicht, sie klotzen. Das republikweit größte Bahnhofsprojekt muss es schon sein. "Stuttgart 21" nennt sich das gigantische Vorhaben der baden-württembergischen Hauptstadt, den Kopf- in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu verwandeln. Die Modellskizzen muten futuristisch an. Oben verschwinden Gebäude samt Gleisen und machen auf 130 Hektar Platz für Parks und ein schickes Quartier mit Wohnungen, Büros, Einkaufszentren und Gastronomie. Für ein Jahrzehnt wären große Teile der City eine Baustelle, 33 Kilometer Tunnel sind zu graben, vier Millionen Kubikmeter Abraum zu transportieren, bis zu 1.000 Lkw-Fuhren am Tag wären zu absolvieren. Flughafen und Messe, vor den Toren der Stadt gelegen, sollen ICE-Haltestellen bekommen.
"Berlin hat seinen Bahnhof, und wir wollen ihn jetzt auch", deklamiert der frühere Ministerpräsident Lothar Späth (CDU). Zusammen mit anderen baden-württembergischen Promis wie etwa den Automanagern Dieter Zetsche und Wendelin Wiedeking, den TV-Stars Harald Schmidt ("unterirdisch in die Zukunft") und Alfred Biolek, dem Philosophen Peter Sloterdijk oder dem früheren Arbeitsminister Walter Ries-ter (SPD) lässt sich der Ex-Ministerpräsident von Regierungschef Günther Oettinger (CDU) für PR-Auftritte einspannen, um für das Jahrhundertprojekt zu trommeln.
Druck ist vonnöten. Denn "Stuttgart 21" beeindruckt nicht nur visionär, sondern auch durch gewaltige Kosten, nach derzeitigem Stand sind es satte 2,8 Milliarden Euro. Der Haken: Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) ziert sich, die unverzichtbare Zusage für Geldspritzen zu geben. Auch ein Treffen Oettingers und des Bahnchefs Hartmut Mehdorn Ende Oktober mit dem SPD-Politiker brachte nicht den von den Befürwortern eigentlich für diesen Herbst erhofften Durchbruch. Auf die 2,8 Milliarden Euro draufzuschlagen sind 2 Milliarden Euro für eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Stuttgart und Ulm, deren Bau auch von Tiefensee befürwortet wird und deren Finanzierung allein vom Bund zu bewerkstelligen wäre. Insgesamt steht ein Projekt für die sagenhafte Summe von fast 5 Milliarden Euro zur Debatte.
Seit zwölf Jahren wird geplant und diskutiert, und nun hängt alles am lieben Geld. Eine Entscheidung will Tiefensee in den ersten Monaten 2007 fällen - Ausgang offen. Jetzt kalkulieren alle Beteiligten die Zahlen noch einmal genau durch, nachdem das Berliner Ministerium eine von Landesregierung und Bahn präsentierte Wirtschaftlichkeitsrechnung angezweifelt hat. "Die Chancen stehen gut", erklärt Oettinger tapfer, für den "Stuttgart 21" ein Prestigevorhaben ist: "Wir sind unserem Ziel näher gekommen." Mehdorn gibt sich optimistisch, "dass wir Anfang nächsten Jahres die letzten Hürden nehmen werden".
Tiefensees schmale Kasse ist für die Kritiker von "Stuttgart 21" die letzte Hoffnung. Im Südwesten stehen Grüne und Umweltverbände gegen eine ganz große Koalition aus CDU, SPD, FDP, Wirtschaft und Gewerkschaften auf verlorenem Posten. Die mit einer erheblichen Fahrzeitverkürzung verbundene Errichtung der ICE-Strecke zwischen Stuttgart und Ulm, Teil der EU-weiten Schienentransversale von Paris über München und Wien bis nach Budapest, wird von allen Seiten unterstützt. Während indes die Anhänger von "Stuttgart 21" diese Linie mit dem Bau des Tiefbahnhofs verknüpfen wollen, plädieren dessen Gegner für eine preiswertere Sanierung des Kopfbahnhofs. Wenn die Landesregierung 500 Millionen Euro in die neue Durchgangsstation investiere, dann fehlten diese Gelder andernorts im Land beim öffentlichen Verkehr, warnt der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Der Baden-Württemberger Winfried Hermann, Verkehrspolitiker der grünen Bundestagsfraktion, sieht in "Stuttgart 21" einen "schwäbischen Schildbürgerstreich". Seine Partei argumentiert, dieses neue Projekt koste Land und Stadt enorme Summen an Zuschüssen, während eine Sanierung des Bahnhofs allein Sache von Bund und Bahn wäre.
Zur Freude der Kritiker unterscheidet Tiefensee zwischen der neuen Trasse Stuttgart-Ulm und "Stuttgart 21": Das seien "zwei Projekte". Zeichnet sich in solchen Andeutungen bereits ab, dass das eine ohne das andere realisiert wird? Oettinger und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) als Pro-Wortführer wollen das nicht akzeptieren. Hinter der harmlos klingenden Formel von der Überprüfung der Wirtschaftlichkeitsrechnung verbirgt sich für die nächste Zeit ein harter Machtkampf um die im Detail komplizierte Finanzierung des unterirdischen Bahnhofs.
Von den 2,8 Milliarden Euro soll bislang die Bahn knapp 1,6 Milliarden übernehmen, jeweils annähernd 500 Millionen entfallen auf Bund und Land, den Rest begleichen regionale Körperschaften und der örtliche Flughafen. Zudem rechnet man im Zusammenhang mit der Schnellstrecke Stuttgart-Ulm mit EU-Subventionen. Zuschüsse aus Brüssel in Höhe von etwa 250 Millionen Euro stuft Oettinger als "realistisch" ein, entschieden ist das aber nicht. Zudem bleibt das Risiko von Kostensteigerungen. Gerade Tunnelbauten werden oftmals teurer als veranschlagt. Solche Risiken will Berlin von sich fernhalten. Oettinger drängt Schuster, neben der Bahn und dem Land müsse auch die Stadt Stuttgart für solche Verpflichtungen einstehen. Die FDP-Fraktion im Landtag schlägt vor, Anteile des Landes am Flughafen und der Messe zu verkaufen, um "Stuttgart 21" zu retten.
Aber Oettinger hält bei Tiefensee nicht nur die Hand auf, er lässt auch die Muskeln spielen. Berlin kann die neue ICE-Verbindung nach Ulm erst von 2017 an finanzieren. Um einen Baubeginn schon 2008/2009 zu ermöglichen, hat sich die Landesregierung bereit erklärt, mindesten 500 Millionen Euro vorzustrecken. Nun aber gedenkt der Regent vom Neckar diese Summe nur aufzubringen, wenn Tiefensee den Stuttgarter Tiefbahnhof mitträgt. Schwaben können nämlich auch pokern.