Einleitung
Das Projekt Europa zielt nicht nur auf ökonomische Harmonisierung und politische Vereinigung, sondern auch auf soziale Integration. Es geht also nicht nur um die Angleichung von Lebensverhältnissen und politischen Strukturen, sondern auch um gegenseitige Beziehungen und Bindungen. Unter diesem Aspekt kann "auf der individuellen Ebene auch die subjektive Identifikation der einzelnen Bürger und ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu und der Verbundenheit mit Europa als Maßstab für den Grad der europäischen Integration betrachtet werden". 1 Zwar finden sich Hinweise darauf, dass trotz der zunehmenden ökonomischen und politischen Integration die Identifikation der Gesamtbevölkerung mit Europa nicht zugenommen hat. Es gibt aber bei den jüngeren Generationen, für die die Europäische Union selbstverständlicher politischer Kontext ihres Aufwachsens ist, eher eine optimistische Haltung gegenüber Europa.
Jürgen Habermas hat insbesondere auf die subjektiven, also auch Einstellungen betreffenden Elemente für eine europäische Weiterentwicklung und Integration verwiesen. Er betont, dass es weniger um die Entwicklung einer starken europäischen Identität geht, die am Ende die auf die nationale politische Gemeinschaft bezogenen Wertorientierungen ablösen soll, sondern um eine Offenheit gegenüber einer übernationalen politischen Meinungs- und Willensbildung über europäische Themen. Etwas emphatisch formuliert: "Es geht um Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Bürger ihre staatsbürgerliche Solidarität über ihre jeweiligen nationalen Grenzen hinaus mit dem Ziel einer wechselseitigen Inklusion erweitern können." 2
In einem solchen Sinne beschäftigen sich die folgenden Abschnitte mit Voraussetzungen möglicher verstärkter europäisch orientierter Bewusstseinsbildung. Im DJI-Jugendsurvey 2003 3 wurden die Einstellungen junger Menschen gegenüber Europa und seinen Institutionen in dreierlei Hinsicht erfasst: Zum einen wurden Orientierungen gegenüber Europa wie Europakompetenz, nämlich das allgemeine Verständnis der Funktionsweise der EU, die persönliche Betroffenheit durch europapolitische Entscheidungen sowie die Bedeutung von Europa für die persönliche Zukunft thematisiert, zum anderen die Verbundenheit bzw. Identität mit Europa im Vergleich zur nationalen Ebene. Darüber hinaus wurde nach dem Vertrauen in europäische Institutionen gefragt. Im Folgenden werden die empirischen Ergebnisse zu diesen drei Einstellungsaspekten dargestellt.
Europaorientierungen und Verbundenheiten
Die Einstellungen junger Menschen zu Europa sind durchaus differenziert (Tabelle 1). Die höchste positive Bewertung erfährt die Aussage C "Für meine persönliche Zukunft wird Europa immer bedeutsamer" (72 % in Deutschland gesamt), gefolgt von Item B, das die persönliche Betroffenheit durch Europapolitik beinhaltet (67 %). Immerhin die Hälfte der Befragten (50 %) schreibt sich eine gewisse politische Kompetenz bezüglich eines Verständnisses der Funktionsweise der Europäischen Union zu. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass der höchste Skalenpunkt (6) von nur 5 % der Befragten gewählt wird, der zweithöchste (5) von 18 % und die nächst schwächere Zustimmung (Skalenpunkt 3) von 27 % (Tabelle 1).
Europa ist für die meisten jungen Menschen Teil ihres Alltagslebens. Gefragt nach ihrer persönlichen Betroffenheit durch europapolitische Entscheidungen, antworten jedoch 10 % der Befragten mit "weiß nicht" (zur Itemformulierung siehe Item B in Tabelle 1). Auch die Fragen, ob Europa bedeutsam für ihre Zukunft ist und ob sie die Funktionsweise der Europäischen Union verstehen (siehe Item C und A in Tabelle 1), können 4 bis 5 % der Befragten nicht beantworten. Insbesondere Befragte mit niedrigeren Bildungsressourcen haben hierzu keine Meinung. 4
Jüngere Befragte schreiben sich geringere Europakompetenz (Item A) zu und fühlen sich auch weniger von Entscheidungen der Europäischen Kommission betroffen als ältere Befragte, wobei in allen Altersgruppen die Mädchen und jungen Frauen geringere Zustimmungswerte aufweisen. Diese geschlechtsspezifischen Differenzen korrespondieren mit den Befunden, dass Frauen sich generell weniger für Politik interessieren und sich auch geringere politische Kompetenz zuschreiben als Männer. 5 Wichtiger als der Einflussfaktor Geschlechtszugehörigkeit erweisen sich das politische Interesse, der Bildungsabschluss und Fremdsprachenkenntnisse. 6
Die größere Distanz der ostdeutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gegenüber Europa, wie sie sich bereits bei den Europaorientierungen gezeigt hat (Tabelle 1), kommt auch bei den affektiven Bindungen zum Ausdruck. Die subjektive Identifikation mit den geographisch bzw. politisch definierten lebensräumlichen Einheiten Gesamtdeutschland sowie Europäische Union - im Sinne von Gefühlen der Zugehörigkeit und Verbundenheit - nimmt in den west- und ostdeutschen Bundesländern seit 1997 zu (Tabelle 2), wobei allerdings die Verbundenheit mit Europa gegenüber den anderen lebensräumlichen Einheiten 7 deutlich nachgeordnet ist. Die Gefühle von Verbundenheit zu beiden territorialen Einheiten werden von den Befragten in ihren Urteilen eng verknüpft und bestätigen somit die These multipler Identitäten. 8
Auffallend ist, dass beide Aspekte der territorialen Verbundenheit in den ostdeutschen Bundesländern geringer ausgeprägt sind als in den westdeutschen. In Ostdeutschland ist die Identifikation mit dem eigenen Teil Deutschlands noch wichtiger als die Verbundenheit mit Deutschland als Ganzem (tabellarisch nicht ausgewiesen). Dies ist aber nicht im Sinne einer eindeutigen ostdeutschen Abgrenzungsidentität zu interpretieren, da die Verbundenheiten mit Ostdeutschland, Gesamtdeutschland und Europa relativ eng positiv miteinander verknüpft sind. 9
Nationale und europäische Verbundenheiten werden von politisch interessierten Befragten stärker betont. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung sozialer Benachteiligung für beide Aspekte affektiver Bindungen von großer Bedeutung. Befragte, die sich bezüglich der eigenen Lebensverhältnisse als benachteiligt einschätzen, sind deutlich weniger affektiv gebunden als jene, die den Eindruck haben, am gesellschaftlichen Wohlstand in angemessener Weise teilhaben zu können. 10
Vertrauen in europäische Institutionen
Vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen - wie auch vielen Erwachsenen - ist Europa als politischer Raum noch weit entfernt. Dies zeigt sich daran, dass mehr als ein Drittel der Befragten über europäische Institutionen wie zum Beispiel die Europäische Kommission oder das Europaparlament keine Beurteilung abgeben kann (Abbildung 1). 11 Nur etwa ein Viertel der jungen Menschen äußert gegenüber diesen Institutionen hohes Vertrauen. Aber nicht nur europäische Institutionen erhalten wenig vertrauensvolle Beurteilungen seitens der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dasselbe gilt auch für bundesdeutsche politische Institutionen wie Bundesregierung oder Bundestag; diesbezüglich bekundet nur etwa ein Drittel der jungen Menschen großes Vertrauen; allerdings ist die Beurteilungsfähigkeit dabei sehr viel größer. Es lässt sich zeigen, dass das ausgesprochene Vertrauen umso größer wird, je weiter weg vom politischen Alltagsgeschehen öffentliche Institutionen agieren. 12 Erst der Judikative - wie etwa dem Bundesverfassungsgericht, das auch eine vermittelnde Funktion zwischen Politik und Justiz erfüllt und damit relativ politikfern operiert - gelingt es, das Vertrauen der Mehrheit der jungen Menschen auf sich zu ziehen. Im Vergleich zu bundesdeutschen Institutionen erscheint das Vertrauen, das Jugendliche und junge Erwachsene europäischen Organisationen aussprechen, also gar nicht so gering, wenngleich ein erheblicher Unterschied in der Beurteilungsfähigkeit zu konstatieren ist. Betrachtet man allerdings nur die jungen Menschen, die großes, mittleres oder geringes Vertrauen bekunden, ergibt sich ein etwas anderes Bild: Ca. 40 % von ihnen sprechen den europäischen Institutionen ihr Vertrauen aus, während dasselbe nur für 30 % bezüglich der Bundesregierung und für 37 % bezüglich des Bundestages zutrifft; die vergleichsweise viel höhere Wertschätzung der Bürgerinitiativen und insbesondere des Bundesverfassungsgerichts bleibt aber auch dann erhalten.
Entsprechend der deutlichen Zunahme der subjektiven politischen Kompetenz junger Menschen mit dem Lebensalter 13 zeigt sich auch bei der Einschätzung europäischer Institutionen eine erhebliche altersspezifische Zunahme der Beurteilungsfähigkeit; aber selbst von den 27- bis 29-Jährigen sind es noch ca. 30 %, die hier keine Beurteilung abgeben können. Die Steigerung der Beurteilungsmöglichkeit mit dem Alter führt aber nicht zu einem Anstieg vertrauensvoller Einschätzungen, im Gegenteil - diese nehmen mit dem Alter etwas ab. Solche Altersunterschiede lassen sich auch bei der Einschätzung bundesdeutscher politischer Institutionen feststellen. Während junge Männer in etwa gleich häufig wie junge Frauen europäischen Institutionen ihr Vertrauen aussprechen, zeigen sich geschlechtsspezifische Differenzen bei der subjektiven Beurteilungsfähigkeit; junge Frauen äußern sich in dieser Hinsicht noch zurückhaltender als junge Männer. Auch dies entspricht geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Selbstzuschreibung genereller subjektiver politischer Kompetenz. 14
Ebenso wie bei politischen Einstellungen generell gibt es auch bei der Einschätzung europäischer Institutionen ausgeprägte Bildungsunterschiede. Mit dem Bildungsniveau nehmen das geäußerte Vertrauen und die Beurteilungsfähigkeit erheblich zu; junge Menschen mit Fachhochschulreife bzw. Abitur bekunden zu etwa einem Drittel großes Vertrauen, von denjenigen, die höchstens einen Hauptschulabschluss haben, ist dies nur ein Fünftel. Wie bei den Europaorientierungen gehen mehr Fremdsprachenkenntnisse und ein stärkeres politisches Interesse - die ihrerseits vom Bildungsniveau abhängen - mit einem größeren Vertrauen in europäische Institutionen einher.
Bei dem Vertrauen in europäische Institutionen lässt sich ein ausgeprägter Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Benachteiligung in den eigenen Lebensverhältnissen feststellen; ein solcher Zusammenhang zeigte sich auch im Hinblick auf europäische und nationale Verbundenheiten. Junge Menschen, die meinen - im Vergleich zu anderen in der Bundesrepublik - etwas oder sehr viel weniger als "ihren gerechten Anteil" zu erhalten, bekunden zu weniger als einem Fünftel Vertrauen, von denjenigen ohne solche Benachteiligungserfahrungen sind dies etwa ein Drittel. Offensichtlich befördert die Wahrnehmung von Benachteiligung die Distanz zu Europa.
Obwohl die Verbundenheit mit Europa in Ostdeutschland auch 2003 noch deutlich geringer ist als in Westdeutschland (Tabelle 2), sind die Ost-West-Unterschiede hinsichtlich des geäußerten Vertrauens in europäische Institutionen nur gering. Großes Vertrauen ist in Ostdeutschland nur um vier Prozentpunkte geringer als in Westdeutschland, und auch die Unterschiede in der subjektiven Beurteilungsfähigkeit sind vergleichbar gering.
Mit den Daten des DJI-Jugendsurvey lassen sich auch Veränderungen des Vertrauens in europäische Institutionen im Vergleich der Jahre 1997 und 2003 analysieren: Dabei zeigt sich, dass in dieser Zeit das Vertrauen sowie auch die subjektive Beurteilungsfähigkeit insbesondere in Ostdeutschland etwas zugenommen haben.
Europaorientierungen, Verbundenheiten und Vertrauen in Europainstitutionen
Die im DJI-Jugendsurvey erfassten drei Aspekte von Europaorientierungen (Tabelle 1) bilden eine Einstellungsdimension ab. Sie enthalten die Wahrnehmung der Relevanz von Europa und der Prozesse der europäischen Einigung sowie damit einhergehend ein Bewusstsein der politischen Bedeutung und des Verständnisses für eine politisch gedachte Einheit Europa. Dadurch wird sicher nur ein Aspekt möglicher Europaorientierungen erfasst, die insgesamt als politisches Selbstverständnis als Europäerin bzw. Europäer im Hinblick auf ein zukunftsfähiges Europa wichtig sein könnten und damit möglicherweise eine gewisse Solidarität für ein staatsbürgerliches Zusammengehörigkeitsgefühl bewirken. 15 Für Jugendliche und junge Erwachsene können diese Einstellungsaspekte als günstige Voraussetzungen betrachtet werden, sich positiv auf Europa als politische Gemeinschaft zu beziehen.
Ein hohes Vertrauen in europäische Institutionen bildet hingegen eine eigenständige Dimension, die zwar mit positiven Einstellungen gegenüber Europa einhergeht, jedoch nicht als Teildimension verstanden werden kann. In diesem Vertrauen spiegelt sich wohl eher eine unmittelbare Wahrnehmung und Bewertung des engeren Politikbereichs wider, den diese Institutionen strukturieren. Gefühle der Verbundenheit wiederum scheinen jeweils Teilaspekte dieser Bezugnahme auf die EU zu enthalten, darauf deuten moderate empirische Beziehungen mit den beiden anderen Einstellungsbereichen (Europaorientierungen, Vertrauen in Europainstitutionen) hin. Jedenfalls wird selbst mit den berichteten wenigen Indikatoren klar, dass man nicht generell von einem homogenen Einstellungskomplex "EU-Orientierung" sprechen kann, sondern deren unterschiedliche Aspekte berücksichtigen muss.
Was fördert Europaorientierungen?
Was fördert eine positive Einstellung gegenüber der EU? Im Folgenden werden einige Merkmale betrachtet, die als Kompetenzen angesehen werden können, sich in einer komplizierter werdenden modernen Gesellschaft, die durch wirtschaftliche Globalisierung und die faktische Relevanz europäischer Einigungsprozesse gekennzeichnet ist, zurechtzufinden. 16 Dabei verwenden wir als EU-Einstellungen die Aspekte, die sich im letzten Abschnitt als eng miteinander zusammenhängend erwiesen haben (Tabelle 1).
Zum einen ist an das politische Interesse zu denken. Europa ist eine politische Einheit mit komplizierten Mechanismen des Funktionierens. Da Europa ein komplexes politisches Gebilde ist, wird es vermutlich für junge Menschen, die sich stärker für Politik interessieren, eher von Bedeutung sein als für jene, für die dies nicht zutrifft. Auch bei jungen Menschen mit höherer Bildung ist ein stärkeres Interesse an Europa zu vermuten. Es ist davon auszugehen, dass diese sich sowohl theoretisch - im Unterricht - als auch praktisch - durch die Nutzung von Möglichkeiten direkter Austauschbeziehungen, etwa Schüleraustausch oder Fahrten in das europäische Ausland - für Europa interessieren. Die intensivere Beschäftigung mit Sprachen im Gymnasium und während des Studiums trägt zur Horizonterweiterung mit europäischer Blickrichtung bei. Kompetenzen in mehreren Sprachen sollen als zusätzliches Merkmal betrachtet werden, auch wenn ein starker Zusammenhang mit der Dauer der Schulbildung gegeben ist. Schließlich soll als förderliche Eigenschaft für EU-Orientierungen auch das Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten einbezogen werden. Als Konzept der "internen Kontrollüberzeugung" soll es die individuelle Vorstellung ausdrücken, dass eigenes Verhalten und eigene Anstrengungen den Verlauf des Lebens zentral beeinflussen können, Ziele also durch eigene Fähigkeiten und Bemühungen erreicht werden können und man nicht auf Zufälle oder Glück angewiesen ist. 17 Solche Überzeugungen von der Realisierbarkeit eigener Handlungsmöglichkeiten könnten auch die Blickerweiterung auf die EU als relevantes Feld für Interessen und Aktivitäten stützen - so die hier verfolgte Annahme.
Haben diese Merkmale Einfluss auf Europaorientierungen? Im Folgenden soll dieser Frage nachgegangen werden. Dabei wird man nicht an klare kausale Zusammenhänge denken können, sondern eher mit Wechselbeziehungen rechnen müssen: Beispielsweise ist eine gute Mehrsprachenkompetenz nicht eindeutig als "Ursache" für eine stärkere Aufgeschlossenheit gegenüber Europa zu interpretieren, denn es könnte umgekehrt auch angenommen werden, dass die Wahrnehmung der Wichtigkeit der EU zum Lernen von mehreren Sprachen motivieren kann. Zunächst sind für alle Merkmale klare Zusammenhänge mit EU-Orientierungen zu konstatieren: Starkes politisches Interesse, ein höherer Bildungsabschluss, ein starkes Vertrauen in eigene Handlungsmöglichkeiten sowie Mehrsprachenkompetenz hängen positiv mit EU-Orientierungen zusammen. Zur vereinfachten Darstellung der gemeinsamen Effekte dieser Variablen soll ein Kontrastgruppenvergleich dienen. In Abbildung 2 wurden die Merkmale in dichotomisierter Form verwendet; angegeben sind jeweils die Anteile starker positiver EU-Orientierungen in Untergruppen, die durch diese Merkmale bzw. Kombinationen von ihnen gebildet werden. 18 Dabei wird die Stichprobe stufenweise nach den genannten Merkmalsausprägungen aufgeteilt, und für jede der sich daraus ergebenden Gruppen wird der Anteil starker positiver EU-Orientierungen ausgewiesen. Die auf der untersten Aufgliederungsebene entstandenen Gruppen weisen also jeweils unterschiedliche Merkmalskombinationen der betrachteten Variablen auf. 19
Es wird deutlich, dass das politische Interesse zu den am stärksten differenzierenden Merkmalen zählt. Der Anteil positiver EU-Einstellungen beträgt bei Personen mit starkem politischen Interesse 59 %, bei denen mit mittlerem oder geringerem nur 30 % - was einer Differenz von 29 Prozentpunkten entspricht. Auf der nächsten Ebene wirkt der Bildungsabschluss: Bei starkem politischen Interesse liegt bei Personen mit Abitur der Anteil positiver EU-Einstellungen bereits bei 66 %, bei denen, die höchstens die Mittlere Reife haben, bei 47 %. Die entsprechenden Werte bei geringerem politischen Interesse sind deutlich niedriger, aber es ist sehr wohl noch ein Bildungseffekt zu erkennen (38 % gegenüber 25 %).
Als drittstärkstes Merkmal wird schließlich das Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten, die internen Kontrollüberzeugungen, einbezogen. Dies verstärkt die EU-Einstellungen bei starkem politischen Interesse und hohem Bildungsabschluss noch einmal: Bei der Gruppe, die zusätzlich zu diesen Merkmalskombinationen starkes Vertrauen in eigene Handlungsmöglichkeiten hat, beträgt der Anteil hoher positiver EU-Einstellungen 74 %, bei denen mit geringerem Vertrauen immer noch 60 %. Der geringste Wert an EU-Zustimmung ist gegeben, wenn geringes politisches Interesse, geringere Bildung und wenig Vertrauen in die eigenen Handlungschancen zusammentreffen: Er liegt bei 22 %. Bemerkenswert ist noch, dass bei der Gruppe mit geringem Politikinteresse, aber höherer Bildung und stärkerer Kontrollüberzeugung der Anteil positiver EU-Orientierungen 49 % beträgt - und damit deutlich über dem Gesamtdurchschnitt (36 %, oberste Zelle) liegt. Bildung und ein woher auch immer gewonnenes Selbstbewusstsein kann auch bei geringem politischen Interesse zur Wahrnehmung der Relevanz der EU führen. Aus der Abbildung kann des weiteren entnommen werden, dass ein niedriger Bildungsabschluss bei starkem politischen Interesse durch eine hohe Sprachkompetenz ausgeglichen werden kann: Der Anteil positiver EU-Einstellungen beträgt in dieser Gruppe 57 %. Bei den anderen Gruppen wirkt mehrfache Sprachkompetenz auf der nächsten Stufe kaum noch zusätzlich.
Insgesamt bestätigt die multivariate Analyse die Wirksamkeit der betrachteten Merkmale für eine positive Wahrnehmung der EU-Relevanz, wobei die stärksten Unterschiede das politische Interesse hervorbringt, dann das Bildungsniveau und schließlich das Vertrauen in eigene Handlungsmöglichkeiten. Aber es sollte hier wiederholt werden, dass es sich eher um dynamisch sich verstärkende Wechselbeziehungen handelt, weniger um eindeutig gerichtete Kausalzusammenhänge. Die entgegengesetzten Merkmalskombinationen haben dabei Werte von 74 % (starkes politisches Interesse, hohe Bildung, starkes Vertrauen in Handlungsmöglichkeiten) und 22 % (jeweils mittlere bis geringe Ausprägungen), wobei zu bemerken ist, dass die Gruppen mit hohen Merkmalskombinationen in der Regel deutlich geringer besetzt sind als die komplementären.
Zusammenfassung und Ausblick
Einstellungen zu Europa sind nicht in einer einzigen Dimension erfassbar. Dabei sind politisch orientierte Wahrnehmungen und Bewertungen von größerer Bedeutung, aber auch solche, welche die Zukunftsvorstellungen und Möglichkeiten der eigenen Lebensplanung betreffen. Die Europaorientierungen Jugendlicher und junger Erwachsener lassen erkennen, dass die nachwachsende Generation in Deutschland die Relevanz von Europa und die Prozesse der europäischen Einigung mehrheitlich durchaus wahrnimmt und sich der Bedeutung einer politisch gedachten Einheit Europas bewusst ist. Die positive Bezugnahme auf Europa ist aber - ebenso wie die affektive Verbundenheit - im Westen Deutschlands deutlich stärker ausgeprägt. Bei der Bewertung von europäischen Institutionen gibt ein nicht unbeträchtlicher Anteil von jungen Menschen keine Beurteilung ab. Diejenigen, die Vertrauen bekunden, halten die europäischen Institutionen nicht für weniger glaubwürdig als die politiknahen Institutionen in Deutschland wie Bundesregierung und Bundestag, wobei allerdings das Vertrauensniveau deutlich geringer ist als etwa gegenüber einer Institution wie dem Bundesverfassungsgericht. Starkes politisches Interesse, ein höherer Bildungsabschluss, Vertrauen in eigene Handlungsmöglichkeiten sowie eine Mehrsprachenkompetenz hängen positiv mit EU-Orientierungen zusammen. Dabei können sogar höhere Bildung und ein Bewusstsein der Wirksamkeit eigenen Handelns auch bei geringem politischen Interesse eine ausgeprägte Wahrnehmung der Relevanz der EU mit sich bringen. Aber auch ein niedriger Bildungsabschluss geht nicht notwendigerweise mit Distanz zu Europa einher, sondern kann durch politisches Interesse und Sprachkompetenz in seiner Wirkung auf EU-Einstellungen ausgeglichen werden.
Die Entwicklung der Einigung Europas ist ein langwieriger Prozess. Während jedoch die älteren Jahrgänge der Bevölkerung diese Entwicklung selbst erfahren haben, stellt sich für die heranwachsende Jugend Europa als ein komplexer - wenn auch noch weiter in Entwicklung befindlicher - Raum für politische Prozesse und eigenes Handeln dar. Eine erfolgreiche Nutzung dieser Handlungsräume und eine Ermöglichung der Ausbildung eines auch auf Europa gerichteten Bewusstseins werden durch Kompetenzen und Chancenwahrnehmung im Aufwachsen gefördert. Allerdings wirkt sich die Erfahrung von Benachteiligung und unzureichendem Zugang zu den weiterreichenden Möglichkeiten überregionaler und übernationaler Integration einschränkend auf ein positives Bild von Europa aus. Auch von daher sind die Stärkung von Bildung, insbesondere politischer Bildung, und die Förderung individueller Handlungskompetenzen wichtig für die Zukunftsfähigkeit der nachwachsenden Generationen.
1 Heinz-Herbert
Noll/Angelika Scheuer, Kein Herz für Europa? Komparative
Indikatoren und Analysen zur europäischen Identität der
Bürger, in: ISI, (2006) 35, S. 1 (ISI = Informationsdienst
Soziale Indikatoren).
2 Jürgen Habermas, Der gespaltene
Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt/M. 2004, S.
76.
3 Der Jugendsurvey des Deutschen
Jugendinstituts (DJI), München, ist eines der großen
replikativen Forschungsvorhaben, das im Rahmen der
Sozialberichterstattung des DJI durchgeführt wird
(Projekthomepage mit weiteren Literaturhinweisen:
www.dji.de/jugendsurvey). Das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend unterstützt diese Forschung im
Rahmen der Finanzierung des DJI. In den ersten beiden Wellen (1992
und 1997) wurden jeweils ca. 7 000 16- bis 29-jährige deutsche
Personen befragt (West: ca. 4 500, Ost: ca. 2 500), in der dritten
Welle (2003) 9 100 12- bis 29-Jährige mit deutscher und
nicht-deutscher Staatsangehörigkeit (West: ca. 6 300, Ost: ca.
2 800). Da es bei dem hier vorgelegten Beitrag zum Teil um einen
Vergleich von Ergebnissen aller drei Wellen geht, wird hier nur auf
die gemeinsame Teilgruppe aller drei Wellen Bezug genommen. Dies
sind die 16- bis 29-Jährigen mit deutscher
Staatsangehörigkeit.
4 Tabellarisch nicht ausgewiesen. - Das
Bildungsniveau wird im DJI-Jugendsurvey bei Befragten, die bereits
das allgemeinbildende Schulwesen verlassen haben, durch den
höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss bestimmt, den sie
erreicht haben; bei Jugendlichen, die noch eine allgemeinbildende
Schule besuchen, wird dafür der angestrebte
Schulbildungsabschluss verwendet.
5 Vgl. Martina Gille, Mädchen und
Politik: Gibt es einen weiblichen Blick auf Politik und politisches
Engagement?, in: Institut für Politik- und
Verwaltungswissenschaften Rostock, Jugend und Politik -
Verdrossenheit?, hrsg. von Gudrun Heinrich. Rostocker Informationen
zu Politik und Verwaltung, (2004) 20, S. 33 - 54; Wolfgang
Gaiser/Martina Gille/Johann de Rijke, Politische Beteiligung von
Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in: Beate Hoecker (Hrsg.),
Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine
studienorientierte Einführung, Opladen 2006.
6 Die Korrelationen zwischen den drei
Europaorientierungen und dem politischen Interesse liegen zwischen
.30 und .40, zwischen Europaorientierungen und
Fremdsprachenkenntnissen zwischen .10 und .20. Ein
Korrelationskoeffizient gibt die Stärke eines Zusammenhangs
wider und kann Werte zwischen -1 (vollkommener negativer
Zusammenhang), 0 (überhaupt kein Zusammenhang) und 1
(vollkommener positiver Zusammenhang) annehmen. Bei
Einstellungsmerkmalen in Surveys geht man bei Werten über .50
von einem sehr starken Zusammenhang, zwischen .30 und .50 von einem
mittleren bis starken und bei Werten zwischen .10 und .30 von einem
geringen, aber klar vorhandenen, bis mittleren Zusammenhang
aus.
7 Im DJI-Jugendsurvey wurden
zusätzlich die affektiven Verbundenheiten mit dem eigenen
sowie mit dem anderen Teil Deutschlands erfasst.Vgl. Sabine
Sardei-Biermann/Martina Gille/Wolfgang Gaiser/Johann de Rijke,
Jugend in West und Ost. Deutsch-deutsche Verbundenheiten,
gegenseitige Wahrnehmung und politische Einstellungen, in:
Deutschland Archiv, 38 (2005) 6, S. 980 - 990.
8 Der Korrelationskoeffizient
beträgt .37. Vgl. auch Bettina Westle, Europäische
Identifikation im Spannungsfeld regionaler und nationaler
Identitäten. Theoretische Überlegungen und empirische
Befunde, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS), 44 (2003), S.
453 - 482.
9 Vgl. S. Sardei-Biermann u.a. (Anm. 7),
H.H. Noll/A. Scheuer (Anm. 1).
10 Die Frage hierzu lautete: "Im
Vergleich dazu, wie andere hier in der Bundesrepublik leben:
Glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteil erhalten, mehr als
Ihren gerechten Anteil, etwas weniger oder sehr viel weniger?" Die
ostdeutschen Befragten äußern dabei zu allen drei
Erhebungszeitpunkten stärkere Gefühle der relativen
Deprivation. Im Jahr 2003 nennen 48 % von ihnen die Kategorien
"gerechter Anteil" und "mehr als gerechter Anteil", aber 68 % der
Westdeutschen. Die Korrelationen zwischen Europaorientierungen und
der Wahrnehmung sozialer Benachteiligung betragen zwischen .13 und
.17.
11 Diejenigen, die keine Beurteilung
abgeben, antworten ganz überwiegend mit "Kann ich nicht
beurteilen" und nur sehr selten mit "Kenne ich nicht"; im Hinblick
auf die europäischen Institutionen sind es 6 %, die diese nach
eigenen Angaben nicht kennen.
12 Vgl. Wolfgang Gaiser u.a., Zur
Entwicklung der Politischen Kultur bei deutschen Jugendlichen in
West- und Ostdeutschland. Ergebnisse des DJI-Jugendsurvey von 1992
bis 2003, in: Hans Merkens/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Jahrbuch
Jugendforschung, 5.Ausgabe 2005, Wiesbaden.
13 Vgl. Johann de Rijke u.a., Wandel
der Einstellungen junger Menschen zur Demokratie in West- und
Ostdeutschland - Ideal, Zufriedenheit, Kritik, in: Diskurs
Kindheits- und Jugendforschung, 1 (2006) 3.
14 Vgl. ebd.
15 So etwa J. Habermas (Anm. 2), S.
57.
16 Dabei ist allerdings zu beachten,
dass die Befragung des DJI-Jugendsurvey vor der umfangreichen
EU-Osterweiterung vom Mai 2004 erfolgte.
17 Vgl. Nina Jacoby/Rüdiger Jacob,
Messung von internen und externen Kontrollüberzeugungen in
allgemeinen Bevölkerungsumfragen, in: ZUMA-Nachrichten, 45
(1999), S. 61 - 71.
18 Die Variablen wurden wie folgt
konstruiert: Starke EU-Orientierungen: Anteil derjenigen Befragten,
die bei allen drei Items (Tabelle 1) einen der Skalenwerte von 4
bis 6 angegeben haben. Politisches Interesse: Frage "Wie stark
interessieren Sie sich für Politik?": "stark", wenn
Antwortvorgaben "sehr stark" oder "stark", "mittel/gering", wenn
Antwortvorgaben "mittel", "wenig" oder "überhaupt nicht"
angegeben waren. Bildungsabschluss: "Abitur" entspricht Abitur oder
Fachhochschulreife, "MR/HS" den Abschlüssen mittlerer Reife,
Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss. Vertrauen in
Handlungsbereitschaft: Mittlerer Summenwert von 3 Items ("Ich
übernehme gern Verantwortung", "Es hat sich für mich als
gut erwiesen, selbst Entscheidungen zu treffen, anstatt mich auf
das Schicksal zu verlassen", "Bei Problemen und Widerständen
finde ich in der Regel Mittel und Wege, um mich durchzusetzen";
Antwortvorgaben von 1-"trifft überhaupt nicht zu" bis
6-"trifft voll und ganz zu"), "hoch": Werte über 5,
"mittel/gering": Werte bis 5 (diese Dichotomisierung wurde
gewählt, da die Werte 1 bis 3 nur sehr gering besetzt waren).
Sprachkompetenz: Frage "Welche Sprachen - außer Deutsch -
können Sie so gut, dass Sie sich mit anderen unterhalten
können?" 10 Sprachvorgaben, "hoch": mehr als 1
zusätzliche Sprache angegeben, "mittel/gering": maximal 1
zusätzliche Sprache angegeben.
19 Die Aufgliederung erfolgte mit dem
Auswertungsprogramm "SPSS Answer Tree". Als Kriterium der
sukzessiven Aufgliederung, ausgehend von der Insgesamt-Zelle, wurde
der CHAID-Algorithmus verwendet, der auf der Basis von
Chi-Quadrat-Statistiken auf jeder weiteren Stufe jeweils das
Merkmal auswählt, das den größten Unterschied von
starken EU-Orientierungen beinhaltet.