BILLIGREISE
Mit Aldi an die amerikanische Ostküste
Was kostet ein Bier in New York?" Es war erst kurz nach neun Uhr morgens, aber die Frage schien zu wesentlich, um sie nicht jetzt schon zu stellen. Denn am Bierpreis, dessen war sich der tropfenförmig gebaute Herr aus dem Rheinland sicher, ließe sich schnell erkennen, ob der Tagestrip nach Manhattan teuer werden würde oder nicht. "Und die Jeans? Sind die hier wirklich billiger als zu Hause?", drängte gleich darauf eine Platinblonde im Camouflage-Look, während sich der Reisebus in den Queens Midtown Tunnel Richtung Times Square zwängte. Auch die nächste Frage kreiste ums Geld: Mit dem rollenden R der Oberlausitz erkundigten sich zwei Rentnerinnen, ob es hier öffentliche Bedürfnisanstalten gebe und was man für ihre Benutzung zahlen müsse. Spätestens in diesem Moment dämmerte dem Guide am Mikrofon, dass er es in der folgenden Woche nicht mit irgendeiner Touristengruppe zu tun haben würde. Denn er dirigierte einen von drei Bussen, in denen insgesamt 150 Schnäppchenjäger aus allen Winkeln Deutschlands Platz genommen hatten. Ihre Reise im vergangenen März war die erste Aldi-Fahrt nach Amerika.
Jeder Teilnehmer wusste: So billig wie der Komplettpreis der Rundreise "Glanzlichter der Ostküste" aus dem Supermarkt würde es vor Ort nicht mehr werden. Lächerliche 799 Euro für New York, die Niagarafälle, Washington und Philadelphia inklusive Flug, Busfahrten und sechs Übernachtungen in Drei- und Fünfsternehotels - das war kaum zu überbieten. Und die Qualität der Offerte schien unzweifelhaft. Denn würde etwa der größte deutsche Discounter, der seit dem 5. Januar im Reisegeschäft mitmischt, sein grundsolides Image leichtfertig aufs Spiel setzen? Niemals. "Mei Computa is a vo Aldi", erklärte ein Herr aus Niederbayern seine Buchungsentscheidung. "A supa Sach."
Entsprechend gewaltig war der Ansturm. Rund 32.000 Urlaube hat Aldi allein in den ersten drei Wochen nach dem Start an die Kunden gebracht. Seitdem bietet die Kette fünf monatlich wechselnde Reisen an, die ausschließlich online oder per Telefon gebucht werden können und hoch standardisiert sind. Wer mit Aldi verreist, hat keinerlei Variationsmöglichkeiten bei Abflugterminen und Unterkünften und verzichtet auf Beratung. Das und der massenhafte Einkauf von Überschusskontingenten macht die Pauschalreisen so unverschämt günstig.
Ausgerichtet werden die Ferien vom Veranstalter Berge & Meer - Aldi mit seinen 4.100 Filialen vermittelt nur und kassiert eine Provision. Die 75-prozentige Tochter des Marktführers Tui ist der größte Direktreiseanbieter Deutschlands. Fernsehsender und rund 80 Tageszeitungen zählen ebenso zu den Abnehmern wie Bertelsmann, Tchibo, Aral und der Baumarkt Praktiker. Groß geworden ist das Westerwälder Unternehmen vor zehn Jahren, als es 15.000 Buchungen nach Hongkong verscherbelte. Erst durch Aldi ist Berge & Meer in die touristische Champions League aufgestiegen.
Erste Verhandlungen zwischen Aldi und Berge & Meer begannen bereits vor vier Jahren. Lange argwöhnten die pingeligen Albrecht-Brüder, dass die Call Center des Direktvermarkters dem Kundenansturm nicht gewachsen seien - nicht ohne Grund. Tatsächlich legten kurz nach der ersten Veröffentlichung mehr als eine Million Besucher die Internetseite lahm, und 20.000 Anrufer ließen die Wartezeiten der Hotlines auf das 15-fache steigen. Vier Tage später war die amerikanische Ostküste ausverkauft. Die Badereise nach Mauritius war nach wenigen Stunden weg. Für die Discounturlauber gilt das Prinzip der Supermärkte: Nur die Schnellen machen das Schnäppchen.
Den zaudernden Aldi-Managern indes ist die komplette Konkurrenz zuvorgekommen. Von der Tengelmann-Tochter Penny, die schon seit vier Jahren Reisen verhökert, Rewes Billigmarke Plus und dem Versandhaus Otto bis zu den Aral-Tankstellen. Auch die 2.700 Filialen des größten Konkurrenten Lidl waren vier Wochen früher mit ihren Reisen auf dem Markt. Lidl organisiert seine Fahrten ebenfalls nicht selbst, sondern durch den Direktreiseanbieter Paneuropa, einem Joint Venture von Thomas Cook und dessen jüngst in Arcandor umbenannten Mutterkonzern KarstadtQuelle.
Die Reiseengagements von Lidl und Aldi sind Ausdruck ihrer Suche nach Wegen aus der Wachstumsfalle; Sonderangebote locken kaum noch neue Käufer in die Läden.
Berge & Meer-Geschäftsführer Klaus Scheyer schätzt, dass in fünf Jahren 30 Prozent des deutschen Reisemarktes im Direktvertrieb abgewickelt werden. Und etwa die Hälfte davon sollen dann Aldi und Lidl unter sich aufteilen, prophezeien Kenner. Aus der Luft gegriffen ist das nicht: Die österreichische Aldi-Tochter Hofer verkauft seit 2003 Reisen und ist hinter Tui und Thomas Cook zum drittgrößten Reiseanbieter des Landes aufgestiegen.
Die Geiz-ist-geil-Mentalität im Reisegeschäft wächst seit langem, die Direktbuchungen nehmen zu. 2006 setzte die deutsche Tourismusindustrie 12,9 Milliarden Euro im Internet um - ein gutes Drittel mehr als im Vorjahr. Die Reisebüros aber ächzen. Schon lange vor Aldis Einbruch in ihr Terrain klagten sie über die "Aldisierung" ihrer Branche und darüber, dass das Gefühl für einen guten Preis verloren gegangen sei. "Eine katastrophale Strategie", urteilt Stephan Busch, Präsident des Bundesverbands mittelständischer Reiseunternehmen. Wenn Giganten wie Tui oder Thomas Cook hochwertige Produkte über Discounter vertrieben, entstünde der fatale Eindruck, dass Reisen etwas Billiges seien. Und dies führe zur Entwertung eines komplexen Produkts. Ihm assistieren Fachleute wie Karl Born. Der Professor für Tourismuswirtschaft sieht in den Reiseangeboten der Lebensmittel-Discounter einen Marketing-Gag ohne Verlustrisiko. Er warnt: "Wenn eine Ware an Wert verliert, geht der Kunde entsprechend damit um."
Dass das Wertgefüge erbrachter Leistungen tatsächlich ins Rutschen geraten kann, zeigt sich bei den zusätzlich angebotenen Exkursionen: Wer für eine All-inclusive-Reise einen Spottpreis bezahlt hat, zieht bei 50 Euro für einen Tagesausflug ein langes Gesicht. Das war auf Aldis erster Amerika-Sause nicht anders. Man griff daher zu einem probaten Gegenmittel - der Knauserei. Als die Aldi-Pioniere während eines Abstechers nach Toronto auf der Aussichtsplattform des berühmten CN Tower erfuhren, dass man für sechs Euro auf den höchsten je von Menschenhand geschaffenen Ausguck der Welt weiterfahren konnte, schüttelten die meisten den Kopf. Der Kitzel des Superlativs verpuffte im spröden Eifer deutscher Sparwut. "Noi", nölte ein Aldi-Filialleiter aus Ulm und umklammerte seine Herrenhandtasche mit beiden Fäusten. "Da fahret mir nimmer nauf. Des isch hoch genug hier."