HISTORIE
Der Tourismus ist ein Produkt der Romantik
Wer über das Reisen erzählen will, darüber, wie aus Entdeckern, Pilgern und Handlungsreisenden Touristen wurden, kommt an einem Land nicht vorbei: Italien. Lange bevor deutsche Massenurlauber dessen Küsten bevölkerten, schickten die Fürstenhäuser im 16. Jahrhundert ihre Söhne auf die "Grand Tour", auf eine Reise quer durch Europa, um sie Manieren und Weltläufigkeit zu lehren. In Italien besichtigten die jungen Fürsten antike Monumente, Kirchen und Museen - letztlich diente ihre Reise nur einem Zweck: Die Dynastien brauchten Nachkommen, die sich zu benehmen wussten, Kavaliere, die das Einmaleins des Adels beherrschten, schließlich gab es noch keine Akademien. An Urlaub, an touristisches Reisen, wie wir es heute kennen, hat dabei ganz sicher niemand gedacht.
Für uns bedeutet Reisen heute: Erholung. Tapetenwechsel. Raus aus dem Trott. Doch diese Vorstellungen existierten bis vor rund 200 Jahren kaum. "Die Forschung", erläutert der Kulturwissenschaftler Hasso Spode vom Willy-Scharnow-Institut für Tourismus in Berlin, "geht davon aus, dass der Tourismus eine Reiseform ist, die erst im 18. Jahrhundert entstand. Ihr wesentlichstes Merkmal ist: Sie dient keinem offensichtlichen Zweck, hat eine reine Konsumfunktion."
Tatsächlich sind die Menschen Jahrhunderte lang nur gereist, wenn sie mussten: die Soldaten in den Krieg, die Kaufleute in die Städte, Offiziere und Kavaliere zur Ausbildung in die Kulturmetropolen Europas. Der Durchschnittsreisende war männlich, adlig, jung und reich; 95 Prozent der einfachen Leute verließen praktisch nie den Ort, an dem sie lebten und arbeiteten.
Reisen war damals auch alles andere als ein Zuckerschlecken: Die Straßen waren in miserablem Zustand, häufig traf man auf Bettler, Flüchtlinge und fahrendes Volk. Wer sich kein Pferd leisten konnte, riskierte bei tagelangen Kutschfahrten Achsbrüche und den tiefen Blick in den Lauf einer Räuberpistole. Erst als mit Beginn der Moderne die Territorialstaaten entstanden und das Straßen- und Postwesen ausgebaut wurde, besserten sich die Bedingungen. Langsam wurde das Reisen für das Bürgertum attraktiv.
In jenen Jahrhunderten galt, ob Adel oder Bourgeoisie - wer als gebildeter Mensch etwas auf sich hielt, reiste nach Italien. Kein Maler, Schriftsteller, Musiker oder Architekt, der die Wiege der europäischen Kultur und Geistesgeschichte damals nicht besucht hätte, der nicht bei einem italienischen Meister lernte oder Inspiration suchte. Dürer, Rubens und der kleine Mozart waren da, und natürlich Goethe, der sich um seine literarische Kreativität wiederzufinden, 1786 heimlich mit einer Postkutsche und unter falschem Namen vom Weimarer Hofe wegstahl und gleich zwei Jahre fort blieb. 50 Stunden dauerte es, bis der Dichter in Trient eintraf - doch hatte er es vergleichsweise bequem: Immerhin stiftete ihm der Herzog später seine Reisekosten, die zu dieser Zeit unglaubliche Summe von 7.000 Talern.
Einen so edlen Spender hätten die Pilger, die sich im Mittelalter zu Tausenden auf den Weg nach Italien machten, ebenfalls brauchen können: Ihnen war auferlegt, die Gräber der Apostel Petrus und Paulus in Rom zu besuchen und sieben Kirchen dazu; in der Hoffnung auf den vollständigen Ablass ihrer Sünden nahmen die Frommen überfüllte Herbergen und Straßenüberfälle in Kauf. Buße konnte ganz schön ungemütlich sein.
Gemeinsam haben die frühen Reisenden, so unterschiedlich ihre Motive auch waren, dass ihre Wege immer einem Zweck folgten: Bildung, Buße oder Business. Umso verwunderlicher, dass ausgerechnet im 18. Jahrhundert eine völlig neue Form des Reisens aufkam: Menschen begannen plötzlich die Alpengipfel zu erklimmen und munter an den Küsten der Nord- und Ostsee entlang zu spazieren, ohne tiefere Absichten zu hegen. Bemerkenswert ist das schon deshalb, weil Berge und Meer Jahrhunderte lang etwas Bedrohliches gewesen waren, Räume, vor deren Naturgewalt man sich fürchtete - das Meer in der Odyssee ist nicht ohne Grund dunkel, fast schwarz, und auch in der Bibel kommt es kaum als azurblaue Idylle daher. Und nun also Badeurlaub. Bergwanderungen. Was war geschehen?
Für den Tourismusexperten Spode, Autor des Buches "Wie die Deutschen Reiseweltmeister wurden", gibt es eine einfache Erklärung: Der Tourismus, sagt er, sei ein Produkt der Romantik, eine Reaktion auf Fortschritt und Aufklärung. "Wenn sich die Welt immer schneller ändert, und zwar so schnell, dass ich schon als 40-Jähriger die Welt, in der ich aufgewachsen bin, nicht mehr wiedererkenne, dann entsteht ein nostalgisches Grundgefühl, das Bedürfnis, dem zu entfliehen." Dann machen sich die Menschen auf die Suche nach Orten, die ihnen echt erscheinen, frei und natürlich, die so sind, wie es früher einmal war. "Touristen wollen", sagt Spode, "zurückkehren in eine imaginäre Vergangenheit. Sie machen eine Zeitreise - eine Zeitreise rückwärts."
Auf der Suche nach Authentizität war einer der ersten touristischen Anlaufpunkte die Schweiz. Sie galt als besonders ursprünglich, das Alpenland erschien wie eine Oase inmitten des Fortschritts, fast so, als hätten die Berge die Moderne abgeschirmt und die Täler im Inneren konserviert. Dort fanden die Reisenden, was sie ersehnten: Freiheit, Natur - und Rückständigkeit, im besten Sinne.
Spode erkennt in diesem sich wandelnden Verständnis im 18. Jahrhundert einen "extremen Bruch in der Grundmentalität des Menschen", einen Bruch, der sich mit wachsendem Fortschritt weiter verfestigte. Denn von nun an ging es Schlag auf Schlag: Im Kaiserreich erhielten Staatsdiener erstmals einen gesetzlichen Urlaubsanspruch, Spitzenbeamte gar über volle sechs Wochen. Die Erfindung von Dampfschiff und Eisenbahn machte Fernreisen in den Orient möglich, mit Karl Baedeker entstand 1827 der erste deutsche Verlag für Reisehandbücher. Der Baptistenprediger Thomas Cook gründete 1845 das erste Reisebüro in Leicester, Karl Stangen bot 1893 die erste deutsche "All-inclusive-Reise" in die USA an.
Es versteht sich: Für den normalen Arbeiter war all das kein Thema. Zehn Prozent der Arbeiterschaft bekamen von ihrem Fabrikherrn ein paar Tage im Jahr frei. Demokratischer wurde das Reisen erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen entstanden, Löhne stiegen und Arbeitszeiten sanken. 1929 besaßen 98 Prozent aller deutschen Tarifverträge endlich Urlaubsklauseln.
In dieser Zeit setzte ein ungeheurer Mobilitätsschub ein: Die "Deutsche Luft Hansa AG" wurde gegründet, Reedereien, damals die ganz Großen im Geschäft, veranstalteten Vergnügungsreisen. Die deutsche Bahn erhielt verlässliche Fahrpläne und beförderte 1922 fast drei Milliarden (!) Reisende.
Doch es waren ausgerechnet die Nazis, die den Tourismus erst zu einem Massenphänomen machten. Ihre Organisation "Kraft durch Freude" (KdF) wurde mit einem Ruck der größte Reiseveranstalter der Welt, zwischen 1934 und 1939 fuhren acht Millionen Reichsbürger mit dem Pauschalanbieter in die Ferien. Der Boom hatte einen Grund: Die Angebote waren billig. Die Arbeiter sollten sie sich leisten können, ihre Wählerstimmen wurden gebraucht. "Jede Diktatur braucht Legitimität", erklärt Tourismusexperte Spode die Motivation der Nationalsozialisten und begründet, warum das System später in der DDR trotz FDGB-Feriendienst nicht gleichermaßen funktionierte: "Die DDR-Bürger konnten nur die Hälfte von Europa sehen. Sie waren von den traditionellen Sehnsuchtszielen abgeschnitten und darüber bald frustriert."
Die Ostdeutschen sahen stattdessen, wie die Nachbarn im Westen so kurz nach dem Krieg immer mobiler wurden: Deren Traumziel Nummer 1 war, was sonst, Italien!, und so krabbelten mithilfe des luftgekühlten Vierzylindermotors unter der Haube des VW Käfer locker nicht nur ganze Familien, sondern auch Zelte und Wohnwagen über die Alpenpässe. In den Sommermonaten des Jahres 1957 aalten sich 3,5 Millionen Bundesbürger an den Küsten der Riviera, oberste Urlaubspflicht: knackig braun werden. Für die Daheimgebliebenen war sie der Beweis dafür, dass man sich eine Auslandsreise leisten konnte.
"Mit den billigen Flugpauschalreisen setzte um 1970 der organisierte Massentourismus ein", sagt Hasso Spode. Fliegen verlor den exklusiven Charakter, bald landete die Hälfte der deutschen Pauschalflugtouristen auf Mallorca.
Und heute? 70 Prozent der Deutschen verreisen jedes Jahr. Das Bedürfnis, Urlaub zu machen, ist größer denn je. Sind wir 100 Jahre nach Beginn des Industriezeitalters noch immer ein Volk von Romantikern auf der Flucht vor der Moderne? Spode jedenfalls meint, die Ur-Motive unserer Reisesehnsucht hätten sich kaum verändert: "Selbst wenn die Leute nach New York fahren: Die laufen ein paar Stunden über die Fifth Avenue, wollen dann aber unbedingt nach Brooklyn. Denn da sind sie eben, die kleinen griechischen Läden und die Juden mit den Schläfenlocken. Da ist das Authentische, das Stück Vergangenheit, nach dem wir suchen, wann immer wir reisen."
Nun, vielleicht sind in den letzten Jahrzehnten doch ein paar Motive hinzugekommen: Shoppen zum Beispiel. Und Saufen. Und Sex. Der Massentourist des 21. Jahrhunderts scheint nicht unbedingt ein großer Romantiker zu sein. Vielleicht aber hat ihn der Fortschritt inzwischen auch so mitgenommen, dass er ihn nur noch im Vollrausch ertragen kann.