BRAUNKOHLE-TAGEBAU
Für Garzweiler II werden im Rheinland 13 Ortschaften umgesiedelt. Besuch in einer Region auf Abruf.
Auf seinem Hof steht Landwirt Johannes Dünschede, in grüner Arbeitshose und kariertem Hemd. Er zeigt auf den Boden vor sich. "Alles Kohlestaub", sagt er und meint die kleine, schwarzbraune Pfütze, die sich dort gebildet hat. Der Wind weht den Staub vom Tagebau herüber. Nur wenige hundert Meter entfernt, gleich hinter Pesch, beginnt das Braunkohle-Abbaugebiet Garz-weiler II. Unaufhaltsam rückt es näher. Pesch liegt rund 60 Kilometer nordwestlich von Köln, an der A 61. Schon auf der Fahrt dorthin versteht man, was "Rheinisches Braunkohlerevier" heißt: Schwere Wasserdampfwolken stehen am Horizont, darunter die Kühltürme der Kohlekraftwerke aus Beton. Linker Hand liegt der Tagebau Hambach. Rechts, an der Abfahrt Jackerath, verschwindet die Welt plötzlich in einem gigantischen Baggerloch.
Bis Pesch kann man fahren. Dahinter hören die Straßen in Richtung Osten irgendwann auf. Dünschedes Hof steht gleich am Ortseingang. Und wie die meisten Häuser der Gegend ist er aus rot-braunem Ziegelstein gebaut. Ein Wachhund meldet im Zwinger kläffend den Besuch an. Der rüstige 80-Jährige betreibt noch immer eine Landwirtschaft - er baut Zuckerrüben, Weizen und Gerste an. Doch in spätestens zwei Jahren soll Schluss sein mit Haus und Hof. Dann steht der Tagebau vor seiner Tür. "Wir haben ja erst gar nicht geglaubt, dass der Bagger hierhin kommt", sagt Dünschede. Das erste Haus, erinnert er sich, hat Rheinbraun schon 1984 gekauft - zehn Jahre bevor das Land Nordrhein-Westfalen den Braunkohleplan für Garzweiler II genehmigte. Noch bis vor wenigen Jahren dachten viele, die Bagger würden vor den 13 Ortschaften, die es nun umzusiedeln gilt, Halt machen. Die Stadt Erkelenz, die Gemeinde Jüchen, die Kirchen, Umweltverbände und auch Privatpersonen wie Dünschede haben gegen die Pläne geklagt. "Da gab es einen jahrelangen Kampf", erzählt er. "Letztlich haben wir doch verloren."
Jetzt stehen in Pesch die meisten Häuser leer. Die Fenster sind vernagelt, die Rollos heruntergelassen. Die Post und die Gastwirtschaft haben schon lange zu. Nur zehn Minuten Fußmarsch, dann steht Dünschede dort, wo früher der Nachbarort Otzenrath war. Ein einsames Straßenschild weist ins Nichts. Das Grundwasser wird bereits abgepumpt. Nur die Ruine der Grundschule und ein Teil des Friedhofs stehen noch. Alles andere wurde umgesiedelt, die Lebenden wie die Toten. Noch ein paar Schritte, dann bricht die Wiese ab, in mehreren Terrassen geht es steil nach unten, wo sich riesige Bagger durch Sand, Kies und Kohle fressen. 48 Quadratkilometer umfasst die geplante Fläche Garzweiler II. Insgesamt 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle lagern hier. "Das sind Energievorräte, die ihresgleichen in Deutschland suchen", so Manfred Lang, Pressesprecher bei RWE Power. Pro Jahr werden in Garzweiler 35 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert - im gesamten Rheinischen Revier zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach sind es sogar 100 Millionen. Die Kohle wird in den fünf umliegenden Kraftwerken verstromt. Damit deckt das Revier etwa 15 Prozent der Stromversorgung Deutschlands und laut RWE 40 Prozent des Bedarfs in Nordrhein-Westfalen.
Seitdem der Tagebau im vergangenen Jahr auf das Gebiet westlich der ehemaligen A 44 ausgeweitet wurde, müssen hier die Dörfer weichen. Den Anfang machten die rund 2.000 Bewohner von Otzenrath, Spenrath und Holz. Als nächstes folgen Pesch, Immerath und Borschemich und bis 2030 sieben weitere Orte, in denen mehr als 5.000 Menschen wohnen. Otzenrath-Spenrath (neu) ist am Reißbrett entstanden und liegt hinter einem kleinen Hügel westlich von Jüchen. Nur der Klammerzusatz im Namen verrät, dass es sich um umgesiedelte Ortschaften handelt. Mittlerweile hat der Postbote wieder leichtes Spiel, denn alle sind am neuen Ort angekommen. Die Zeit der Doppelbelegung von Straßennamen und Postleitzahlen ist vorbei.
Arno Lorenz und seine Familie wohnen hier in einem Neubau mit Terrasse und Garten. Sie gehörten 2002 zu den ersten Umsiedlern. In ihrem neuen Zuhause fühlen sie sich wohl. Es gibt wieder einen Bäcker, ein Obst- und ein Blumengeschäft und zwei Kirchen - eine katholische wie eine evangelische. Die Supermärkte sind nun besser zu erreichen. Auch die Dorfgemeinschaft sei sehr gut. "Ich habe den Eindruck, dass alle zufrieden sind", sagt Lorenz, der selbst seit über 20 Jahren im Tagebau Garzweiler arbeitet. Hat er nicht ein komisches Gefühl, seine alte Heimat abzubaggern? "Nee", lacht der 46-Jährige, dort unten, wo er baggere, sehe er das gar nicht.
Familie Lorenz fiel der Neuanfang leicht. Vielleicht auch deshalb, weil sie kein eigenes Haus hatte, sondern zur Miete wohnte. Für Arno Lorenz war das Ganze mehr wie ein Umzug. Wenn auch mit dem Unterschied, dass man an den alten Wohnort bald nicht mehr zurück kann. "Dafür hat man Bilder gemacht", sagt Regina Lorenz, "das muss man anders festhalten." Ebenfalls zufrieden mit dem Umsiedlungsprojekt ist man in der zuständigen Gemeinde Jüchen. Von den rund 2.000 Bürgern kamen etwa 1.500 mit an den neuen Standort, stellt Heinz Kunze fest. "Das ist eine super Quote!" Kunze betreut die Umsiedlungen für die Gemeinde, koordiniert alle Maßnahmen und ist Ansprechpartner, in erster Linie für die Bevölkerung. Deren Probleme versteht er gut, denn vor rund 20 Jahren ist er selbst aus Garzweiler - dem Dorf, das dem Tagebau seinen Namen gab - umgesiedelt.
Wie die Menschen in der Region hat auch die Gemeinde gelernt, mit dem Unvermeidlichen umzugehen. Nachdem sie alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft hatte und vor den Gerichten gescheitert war ("Wir sind da regelrecht abgebügelt worden!"), begann man sich ganz pragmatisch auf die Umsiedlungen zu konzentrieren: Ein Bürgerrat wurde gebildet, der auch die Tagebaugegner einbezog. "So gut wie jede Entscheidung des Gemeinderats wurde von den Bürgern mitgetragen", sagt Kunze. So habe man schließlich "eine bittere Sache rund gemacht". Nicht gern erinnert er sich an die Jahre 1994/95. Damals hätten die Parteien im Land auf dem Rücken der Bevölkerung ihre Politik ausgetragen. Einen Tag habe es geheißen, Garzweiler kommt, am nächsten dann, Garzweiler kommt nicht. "Dieses Hin und Her hat an den Nerven gezerrt", sagt er heute. Auch deshalb hat die Gemeinde die Parteipolitik in der Umsiedlungsfrage bewusst außen vor gelassen.
Was die Otzenrather nun hinter sich haben, steht Dünschede und den verbliebenen Menschen im restlichen Garzweiler-II-Gebiet noch bevor: Über den Preis ihrer Häuser verhandeln, Gutachten einholen, sich mit dem Betreiber RWE einigen. "Die Krux dabei ist", sagt Kunze", "dass jeder das für sich macht". Nie werde öffentlich, was andere ausgehandelt haben. So wachsen mancherorts Gerüchte und Unzufriedenheit. In Pesch, munkelt man, werden die Leute nicht so gut entschädigt wie in Otzenrath. Auch wenn die Stadt Erkelenz genau wie die Gemeinde Jüchen Verträge mit RWE geschlossen hat, die besagen, dass jedem das zusteht, was er zuvor hatte.
Dünschede sieht der Zukunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Auch er muss bald mit den Verhandlungen beginnen. "Das ist eben schwer dann", sagt er. Zumal ja nicht "neu für alt" entschädigt werde, sondern der Zeitwert eines Hauses zählt. Doch er hat keine Wahl: "Wir werden neu bauen müssen und eines Tages umziehen von hier." An diesen Tag mag er nicht denken. Doch die Nachbarn sind schon weg, und als er davon erzählt, stehen ihm Tränen in den Augen.
Auf der Rückfahrt drehen sich die Windräder am Rand des Tagebaus. Wie ein Zeichen, dass es vielleicht auch anders gehen könnte, mit der Energie.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Köln.