INDIEN
Wie sozial und ökologisch sind Wasserkraftwerke? Im kleinen Bundesstaat Sikkim im Himalaya wehrt sich der Bergstamm der Lepchas gegen Staudammprojekte. Noch hofft er auf die Gesprächsbereitschaft der Regierung.
Ehrfürchtig ruht sein Blick auf dem majestätischen Kangchenchonga. Im Angesicht des dritthöchsten Gipfels der Welt haucht Sochip Lepchas feiner Gesang den Heldentaten längst vergessener Könige Leben ein. Dem 55-jährigen Geschichtenerzähler zu begegnen ist ein Ereignis, denn er ist einer der letzten aus dem kleinen Lepcha-Bergstamm, der "unendliche" Geschichten memorieren kann. Heute lebt er im Dorf Tingvong im Mini-Bergstaat Sikkim, der sich zwischen Nepal und Tibet in die Falten des nordöstlichen Himalayas schmiegt.
"Heute werde ich nur selten gerufen, zum Beispiel bei Totenritualen. Die ganze Geschichte dauert eigentlich drei ganze Tage und Nächte." Die Gabe ging von der Mutter auf Sochip über, die ihm als Kind die langen, kalten Nächte mit zauberhaften Wesen, Prinzen und magischen Heilern verkürzt hat. Seit es aber Fernsehen in der abgeschiedenen Region gibt, haben die Mythen aus Bolly- und Hollywood ihn abgelöst: "Wir gehen mit der Zeit, aber Wasserkraftwerke in Dzongu wollen wir nicht."
In Tingvong geht es seit Tagen um kein anderes Thema mehr. In Gangtok, der Verwaltungshauptstadt des Unionsstaates, sind Lepcha-Aktivisten und Freunde aus dem Dorf in den bislang längsten Hungerstreik in der Geschichte Sikkims getreten. Mehr als vierzig Tage schon dauert die Satjagraha, der gewaltlose Widerstand gegen die 50.000 Megawatt-Wasserkraft-Initiative der Zentralregierung in Neu-Delhi. Demnach soll ein riesiges Netz aus neuen Wasserkraftwerken in den Bergstaaten entstehen, um Indiens wachsenden Stromhunger zu stillen. Allein in Sikkim und im angrenzenden Westbengalen sind 24 Projekte entlang des Teesta-Flusses geplant, sieben davon im nördlichen Verwaltungsdistrikt Dzongu. Dort leuchtet der Fluss in reinstem Türkis; seine Quelle liegt im unzugänglichen Gletschergebiet, dann mäandert er quer durch den Staat, um sich in Westbengalen mit dem mächtigen Strom des Brahmaputra zu vereinen.
"Niemand hat uns über die Projekte informiert. Die Behörden lassen uns im Dunkeln. Und wer dagegen ist, wird von lokalen Politikern unter Druck gesetzt. Das ist das Land der versteckten Schätze. Die Tunnelarbeiten werden negative Folgen haben", sagt Sochip. Der heilige Padmasambhava, der den Buddhismus nach Sikkim brachte, soll laut Glauben heilige Reliquien wie Bücher in Höhlen versteckt haben, die nur Erleuchtete finden könnten. Durch Sprengungen könnte dieses spirituelle Wissen für immer verlorengehen, so die Befürchtung. Bislang schützte der Staat die bedrohte Minderheit, ihre Sprache und Kultur, die in Naturreligion und Schamanismus wurzelt und mit dem Buddhismus verschmolzen ist.
Die Lepchas siedelten in der Region schon bevor die buddhistischen Butias im 15. Jahrhundert aus dem benachbarten Tibet einwanderten und nach ihnen die Engländer, Inder und Nepalesen kamen. Von insgesamt rund 65.000 Lepchas siedeln heute etwa 3.000 in einem Reservat in Dzongu nahe der Stadt Mangan. An einem Checkpoint wird kontrolliert, ob Fremde in das Lepcha-Gebiet dürfen.
Die Ernüchterung brachte das erste 510-Megaswatt-Kraftwerk (Teesta Stage V), südlich von Dzongu, das gerade in Betrieb geht. Bei dem 424-Millionen-Dollar-Projekt unter Leitung der staatlichen National Hydroelectric Power Corporation (NHPC) wurde der Teesta-Fluss fast vollständig aus seinem ursprünglichen Bett gehoben und fließt nun statt dessen durch einen künstlichen 17,7 Kilometer langen Tunnel im Berg. Er lenkt die Wassermassen zu einem 95 Meter hohen Staudamm und von dort zum unterirdischen Kraftwerk unweit der Industriestadt Singtam. Nah an Fluss und Tunnel zeigen Wohnhäuser an der Straße lange Risse, es gab Erdrutsche.
In Tseten Lepchas Haus treffen sich Betroffene. Der angesehene Geschäftsmann ist Mitbegründer der Bürgerinitiative Affected Citizens of Teesta (ACT), der betroffenen Bürger am Teesta in Gangtok. Hier ist der Sitz der Landesregierung seit der Abdankung des letzten Monarchen im Jahre 1975, als das unabhängige Königreich Sikkim Teil der Indischen Union wurde. Die Nähe zu China und der kürzlich eröffnete Nathula-Pass an der antiken Handelsstraße nach Lhasa in Tibet verstärkt das Gefühl, wie weit weg von den Bedürfnissen der Menschen hier Neu-Delhis Entscheidungsträger sind.
Auf seinem Laptop hat Tseten sämtliche Vorkommnisse dokumentiert: "Schlimm war, als der Abraum, der durch die Tunnelarbeiten anfiel, von den Betreibern der NHPC, nicht am dafür vorgesehen Ort, sondern einfach im Fluss entsorgt wurde. Dadurch stieg der Wasserpegel während des Monsuns so stark an und riss eine Brücke weg, sodass ein Dorf total abgeschnitten war." Auch Wasserknappheit und verminderte Ernteerträge, für die es keine Entschädigungen für die Bauern gab, folgten aus dem veränderten Flussverlauf.
Die ATC will den sofortigen Planungsstopp von Kraftwerken in Lepcha-Gebieten wie Dzongu erreichen. Alle vorliegenden Studien seien unzureichend. Nötig seien regierungsunabhängige Untersuchungen, die etwa die geologische Besonderheit der erdbebengefährdeten Region berücksichtigten, dazu die einzigartigen Lebensräume für Tiere und Pflanzen am Teesta-Fluss. In Sikkim gibt es 700 Schmetterlingsarten sowie mehr als 500 Orchideen- und Vogelarten. 40 Prozent der Staatsfläche sind Nationalparks und mehr als 80 Prozent stehen unter der Kontrolle der Landesbehörde für Forstwirtschaft. Dass dies weiterhin so bleibt, dafür kämpfen Lepchas und Umweltschützer.
Die meisten Lepchas sind wenig gebildet und als selbstversorgende Bauern nicht vertraut mit der Geldwirtschaft. Zu viele, die freiwillig ihre Felder hergaben, sind nun mittellos. "Die Regierung versprach Jobs, doch nur 50 Prozent erhielten welche", sagt Sherap Lepcha, ein Touristenführer, für den die Zukunft nicht in großen Kraftwerken, sondern in sanftem Ökotourismus liegt. Nutznießer der Wasserkraft seien Metropolen wie Kalkutta, für die der Strom produziert werden soll. Die lokale Bevölkerung gehe leer aus. "Ich habe Angst vor der Migration. Sieben Kraftwerke in Dzongu, das heißt 5.000 Arbeiter und ihre Frauen und Kinder. 30.000 insgesamt. Das ist zu viel! Wir sind ein verschwindender Stamm. Wir kriegen keine Jobs. Es gibt nur Jobs für Fachkräfte und einfache Arbeiten. Wir sind keine Ingenieure, sondern Bauern, und wir haben keine Zeit für Straßenbau." Schon jetzt leben mehr Nepalesen, meist Arbeitsmigranten, als Ureinwohner in Sikkim. Das demografische Gleichgewicht gerät aus der Balance, während Sikkims Regierung weiter auf Staatseinnahmen pocht. Sie will Strom exportieren. Der Aufschwung beflügelt das Schwellenland Indien und stellt es zugleich vor Herausforderungen. Nach wie vor sind Versorgungsengpässe in allen Großstädten im Bereich Strom epidemisch. Die Regierung setzt daher auf Atomkraft, Kohle und Wasserkraft, um die Stromerzeugungskapazität von derzeit jährlich 100.000 Megawatt bis 2013 zu verdoppeln. Dabei soll die Wasserkraft auf 30 Prozent der gesamten Energieerzeugung steigen. Sikkims Potenzial wird auf 5.000 Megawatt geschätzt.
Die Kritik an der Verletzung von Umweltnormen und sozialen Verwerfungen weist der Berater des Ministerpräsidenten Bahadur B. Goorong zurück: "Die meisten Vorwürfe sind übertrieben. Wir haben alle Auflagen vom Bundesumweltministerium erfüllt. Jeder kritische Punkt wird sorgfältig abgewogen. Am Ende rechnen wir mit Einnahmen in Höhe von rund 17,5 Millionen Euro. Wir wollen Sikkim aus der Isolation führen." Der Hungerstreik geht weiter. Noch gibt es einen Funkten Hoffnung für die Lepchas, dass die Landesregierung Gesprächsbereitschaft zeigt.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Deutschland und Indien.