BILDUNG
Nur jedes fünfte Kind steigt auf
"Es gibt sie, die Mobilität im deutschen Bildungssystem - aber meist nur nach unten", so lautet das nüchterne Fazit von Klaus Klemm. Der Forscher an der Universität Duisburg-Essen hat für eine Studie über 100 Verordnungen zusammengetragen, die je nach Bundesland den Übergang von einer Schulform in die andere unterschiedlich regeln. Ein "gigantischer bürokratischer Aufwand" werde da getrieben - ohne dass sich viel bewegt. Aus Angst vor schlechten Berufschancen trimmen viele Eltern ihre Kinder auf den Besuch eines Gymnasiums. Aber nicht jedes Kind hält dem Druck stand.
Klemm zufolge wechseln derzeit 14 Prozent der Kinder zwischen der fünften und zehnten Klasse den Schultyp. Doch nur jedes Fünfte steigt auf "nach oben", 80 Prozent dagegen werden heruntergestuft. Die Realschulen sind entsprechend voll von demotivierten Ex-Gymnasiasten. Zwar behaupten Schulämter und Ministerien, jede Schullaufbahn sei korrigierbar. Tatsächlich aber ist das dreigliedrige System in Deutschland wenig durchlässig und enthält, wie die Pisa-Ergebnisse gezeigt haben, auch soziale Sprengkraft. Familiäre Rahmenbedingungen entscheiden erwiesenermaßen mit. So erhalten Akademikerkinder dreimal häufiger die Empfehlung für das Gymnasium als Kinder aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien.
Neben Kindern und Eltern seien die Lehrer "Leidtragende eines falsch angelegten Schulsystems, das so stark wie nirgendwo sonst aussortiert", glaubt Renate Hendricks. Die langjährige Vorsitzende des Bundeselternrates hat über ihre Erfahrungen gerade ein kritisches Buch geschrieben. Darin fordert sie dazu auf, das "Schicksal Schule" nicht einfach hinzunehmen. Sie plädiert dafür, die Kinder länger gemeinsam lernen zu lassen. Vom Prinzip der rigiden Auslese im Alter von zehn Jahren hält sie wenig. Am Ende der vierten Klasse geben die Lehrer Empfehlungen, welche Schulform die Kinder danach besuchen sollten.
Die Mitbestimmungsrechte der Eltern beim Schulwechsel sind je nach Bundesland verschieden. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat die Möglichkeiten, den Empfehlungen der Grundschule nach der vierten Klasse nicht zu folgen, in jüngster Zeit eingeschränkt. Wenn Eltern ihre Sprösslinge dort gegen den Rat der Lehrer am Gymnasium anmelden, müssen diese zunächst einen dreitägigen Probeunterricht absolvieren - und können nach einer negativen Begutachtung durch die Schulaufsicht abgelehnt werden.
Die Kinder stehen früh "intensiv unter Druck", sagt Frank Nonnenmacher, der an der Universität Frankfurt Didaktik der Sozialwissenschaften lehrt. Grundschullehrerinnen berichten von besorgten Eltern, die schon in der zweiten Klasse nachfragen, "ob der Sohn oder die Tochter denn auch die Statuspassage nach dem vierten Schuljahr bestehen wird". Die Schule, spitzt Nonnenmacher zu, sei "eine ausgeklügelte Sortierungsmaschine, die den Menschen auf einen bestimmten Platz stellt".
Der Stress setzt die Schüler unter Dauerspannung. Schon Acht- oder Neunjährige berichten, dass sie nachts nicht mehr gut schlafen, weil sie fürchten, "die Aufgaben nicht zu verstehen". Eltern suchen immer früher Hilfe beim schulpsychologischen Dienst, weil ihre Kinder Angst haben zu versagen. Daran sind die Erwachsenen manchmal nicht ganz unbeteiligt. Manche versuchen schon in der Kindergartenzeit, ihren Nachwuchs auf Leistung zu trimmen. "Übermäßiger Druck fördert das Lernen nicht", warnt eine Pädagogin. Eltern sollten sich als Begleiter ihrer Kinder verstehen.