NRW-SCHULSTREIT
Die SPD fordert die Gemeinschaftsschule. Christdemokraten fürchten um die Bildung der Kinder.
Nach den Herbstferien könnten Gymnasiasten in Nordrhein-Westfalen über Transparente und Infotische stolpern: Unter dem Motto "Keine Experimente mit unseren Kindern" startet die CDU in Nordrhein-Westfalen eine Kampagne gegen die von der SPD geplante Gemeinschaftsschule. Mit 200.000 Flugblättern, 100.000 Postkarten sowie Plakaten und Resolutionen in Kommunalräten will die CDU für den Erhalt der getrennten Schulformen kämpfen. Auch vor den Gymnasien sollen sich die Christdemokraten mit dem Transparent "Diese Schule will die SPD schließen" postieren. CDU-Generalsekretär Hendrik Wüst verteidigt die drastischen Slogans: "Die SPD plant einen Angriff auf das System, da müssen wir heftig reagieren", sagt er unserer Zeitung. Seine Partei trete ein für eine gute Bildung. "Unsere Schulen sind in Gefahr", so Wüst.
Zweieinhalb Jahre vor der nächsten Landtagswahl ist im bevölkerungsreichsten Bundesland ein heftiger Streit um das zukünftige Schulsystem entbrannt. Seitdem die oppositionelle SPD auf einem Bildungskongress Ende August ihr Konzept einer "Gemeinschaftsschule" nahezu einstimmig verabschiedet hat, bereitet sich die CDU auf die Kampagne vor. Das Konzept der SPD sieht vor, Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien unter einem Dach zusammen zu fassen und alle Kinder mindestens bis zur sechsten Klasse gemeinsam zu unterrichten. "Schulfabriken" nennt die regierende CDU das Konzept. Sie forderte im Landtag sogar eine aktuelle Stunde zu dem Konzept - eine völlig unübliche Reaktion auf ein Vorhaben der Opposition.
Die SPD-Landesvorsitzende Hannelore Kraft wehrt sich gegen die Vorwürfe. "Die CDU-Angstkampagne ist Unsinn. Die Gemeinschaftsschule sichert gefährdete Schulstandorte, gerade im ländlichen Raum", sagte sie. Das dreigliedrige System setze auf Auslese: "60.000 Schülerinnen und Schüler bleiben jedes Jahr allein bei uns sitzen", so Kraft weiter. Auf einen Aufsteiger kämen im NRW-Schulsystem neun Absteiger. "Statt zu fördern werden Kinder frustriert, fühlen sich als Versager", sagt Kraft. Sie hat selbst einen vierzehnjährigen Sohn - er besucht allerdings das Gymnasium. "Heute würde ich ihn aber auf die Gesamtschule schicken", versichert Kraft. "Wir lassen uns von der Schlammschlacht der CDU/FDP-Koalition nicht beeindrucken."
Die nordrhein-westfälische SPD hatte schon einmal unter einer Bildungs-Kampagne zu leiden: Die Gesamtschule war noch in der Versuchsphase, als die regierende SPD 1976 als Übergangslösung die "Kooperative Schule" einführen wollte: Der Entwurf sah eine Vereinigung der Hauptschule mit mindestens einer der weiterführenden Schulen vor. Die Realschule musste, das Gymnasium konnte eingegliedert werden. Eltern starteten mit kräftiger Hilfe der CDU ein Volksbegehren gegen die "Koop-Schule" - das bislang einzig erfolgreiche im bevölkerungsreichsten Bundesland. Der damalige SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn war nach dem Koop-Streit so angeschlagen, dass er 1978 zurücktrat. SPD-Chefin Kraft ist trotzdem optimistisch, dass ihr Konzept 30 Jahre später mehr Chancen hat. "Die Zeit ist heute weiter als bei der Koop-Kampagne", sagt sie. "Wir haben für unser Konzept mehr als ein Jahr lang beraten und diskutiert. Die gesellschaftliche Debatte hat sich weiter entwickelt."
Zumindest im Landtag reißen die 30 Jahre alten Gräben aber wieder auf. Als Ende August die Noten für das erste nordrhein-westfälische Zentralabitur bekannt wurden und die Gesamtschüler eine um durchschnittlich 0,26 Punkte schlechtere Abiturnote erlangten, sagte NRW-Bildungsministerin Barbara Sommer (CDU): "Das Ergebnis bestätigt uns, am dreigliedrigen Schulsystem fest zu halten." Die Gymnasien hätten ein hervorragendes Ergebnis erzielt. Die Gesamtschulen wehren sich gegen die Kritik: "Wir haben nicht die gleichen Bedingungen", sagt Werner Kerski, Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule. So seien an Gesamtschulen Schüler mit Migrationshintergrund Alltag, an den Gymnasien aber die Ausnahme. Laut Statistik betrage der Ausländeranteil an Gymnasien 4,8 Prozent, an Gesamtschulen dagegen 16,5 Prozent. Kerski weiß, wovon er spricht: Er leitet eine Gesamtschule in der Ruhrgebietsstadt Hagen, in der die Hälfte aller Oberstufen-Schüler aus nicht-deutschsprachigen Familien kommt. Bei der Ausbildung und Integration solcher Schüler leisteten die rund 200 Gesamtschulen in NRW Pionierarbeit, sagte Kerski. "Die Landesregierung müsste dankbar sein, dass wir so viele Schülerinnen und Schüler zum Abitur führen", so Kerski. Diese Menschen wären oft ohne gymnasiale Empfehlung in die Sekundarstufe I gestartet und hätten sich dann in den gemischten Klassen der Gesamtschule hocharbeiten können, auch wenn ihre Muttersprache nicht deutsch ist und sie aus so genannten bildungsfernen Schichten kämen. "Das sind lauter Erfolgsgeschichten", sagt Kerski. Erfolgsgeschichten, die im deutschen Bildungssystem selten vorkämen.
Das scheinen andere Bundesländer ähnlich zu sehen. Im schwarz-rot regierten Schleswig-Holstein haben im August an sieben Orten die ersten Gemeinschaftsschulen ihre Arbeit aufgenommen. Dort lernen alle Mädchen und Jungen von der 5. bis zur 10. Klasse gemeinsam. Auch Berlin plant, ab November in zwölf Bezirken Schüler und Schülerinnen zehn Jahre lang gemeinsam zu unterrichten - bislang teilen sie schon bis zur sechsten Klasse die Schulbank. Rheinland-Pfalz führte schon vor zehn Jahren im ländlichen Raum die Regionalen Schulen mit Haupt- und Realschulzweigen ein, in Mecklenburg-Vorpommern ersetzen diese komplett die Hauptschule. Das Saarland hat die Hauptschule vor zehn Jahren durch die Erweiterte Realschule abgelöst, in der die Schüler ab der 7. Klasse auf Haupt- oder Realschulzweige aufgeteilt werden. In Sachsen gibt es die Mittelschule, die sich in Haupt- und Realschulzweige gliedert, in Thüringen nennt sich das Ganze Regelschule, in Sachsen-Anhalt und Bremen Sekundarschule. Nur in Nordrhein-Westfalen scheint die frühe Trennung der Schülerinnen und Schüler nicht zur Debatte zu stehen.
Dabei ist der Veränderungsdruck in allen Ländern groß: Ihnen allen ist noch der Besuch von Vernor Munoz Villalobos im Gedächtnis. Der UN-Sonderberichterstatter hat im vergangenen März in Genf seinen Bericht zu seiner Deutschlandreise vorgestellt- und harsche Kritik am gegliederten deutschen Schulsystem geübt. Darüber hinaus zwingt der demografische Wandel Städte und Gemeinden gerade auf dem Land dazu, kleinere Schulen zu schließen oder mit anderen zu vereinigen. Ihnen geht schlichtweg der Nachwuchs aus. Ein Trend, der sich in den nächsten Jahren noch verschärfen wird.
Deswegen werden es die nordrhein-westfälischen Christdemokraten mit ihrer Kampagne auch besonders auf dem Land schwer haben. Ausgerechnet dort, wo die CDU traditionell über stabile Mehrheiten verfügt, melden immer weniger Eltern ihre Kinder an Hauptschulen an, Gesamtschulen hingegen werden so stark nachgefragt wie noch nie. Sie müssen sogar Kinder abweisen. Dieser Konflikt spiegelt sich nirgendwo so deutlich wieder wie in den beiden münsterländischen Kleinstädten Horstmar und Schöppingen. Die beiden 7.000-Einwohner-Städtchen nordwestlich von Münster sind seit Jahrzehnten konservativ regiert - und haben vor wenigen Tagen ihren Antrag für die NRW-weit erste Gemeinschaftsschule auf den Weg gebracht. Denn den einzigen weiterführenden Schulen, zwei Hauptschulen, geht der Nachwuchs aus. Zum kommenden Schuljahr wurden in der von Schöppingen weniger als 20 Kinder angemeldet, in Horstmar nur noch 14. 80 Prozent der Jugendlichen gehen hingegen schon heute auf Realschulen und Gymnasien in den benachbarten Städten, Tendenz steigend. Die mittelständische Wirtschaft jammert schon darüber, dass vor Ort keine qualifizierten Nachwuchskräfte mehr ausgebildet werden.
Diese Entwicklung ließ die beiden Bürgermeister den für CDU-Verhältnisse revolutionären Schritt gehen und die Gemeinschaftsschule fordern. Zuspruch bekommen sie dabei auch von den Eltern, die in einer städtischen Umfrage zu gut 77 Prozent das für 2008 geplante Schulmodell befürworteten. Mit ihrem Vorstoß bringen die beiden Stadtchefs aber die schwarz-gelbe Landesregierung in Erklärungsnot. Ausgerechnet aus den eigenen Reihen werden Konzepte der Opposition vorweg genommen. Eine Genehmigung vom Land gilt deshalb auch als fraglich. "Wir werden die Anträge gründlich prüfen", sagt ein Sprecher des Bildungsministeriums. Ministerin Barbara Sommer hat die Ansprüche aber schon im Vorfeld hoch geschraubt: Das Modell müsse auf alle Schulen im Land übertragbar sein, sonst könne sie es nicht genehmigen, betont die Christdemokratin. Das Modell der beiden benachbarten Kommunen dies- und jenseits der Kreisgrenze zwischen Steinfurt und Borken sieht vor, die Schüler der Jahrgangsstufen fünf, sechs und sieben gemeinsam in Horstmar zu unterrichten. Die daran anschließende Aufteilung in Gymnasium sowie Haupt- und Realschule soll dann bis zur Klasse zehn in Schöppingen erfolgen. Damit wären beide Schulstandorte langfristig gesichert. Zumindest hier werden die Christdemokraten ihre Plakate wohl in den Kartons belassen.