Erinnerungen
Der Historiker Fritz Stern blickt zurück auf sein Leben und fünf deutsche Republiken. »Ein versöhn-liches Verstehen mit ungeschminkten Mahnungen« zu verbinden, das ist sein erklärtes Ziel. Er hat es erreicht.
Oktober 1964: In Berlin findet der Deutsche Historikertag statt; am zweiten Nachmittag platzt das Auditorium Maximum der Freien Universität schier aus den Nähten. Zur Debatte steht die Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg, angeregt durch Fritz Fischer umstrittenes Buch "Griff nach der Weltmacht", das damals die Zunft der Historiker völlig polarisierte. Auf dem Podium geben sich Fischer und sein Kontrahent Egmont Zechlin die Hand, der Saal applaudiert, Gerhard A. Ritter, Fischers mächtigster Kritiker, sitzt wie versteinert daneben. Fischers Vortrag ist unglücklich, er wirkt gehemmt, während Zechlin und Ritter glänzen und fein abgestimmt Punkte sammeln. Die Stimmung im Publikum neigt sich ihnen zu.
Dann tritt als siebter oder achter Redner der erst 38 Jahre alte Fritz Stern aus New York ans Pult. Engagiert, aber ohne heftigen Ton, wägt er die Argumente, definiert das Kaiserreich als moderne Industriegesellschaft mit völlig veraltetem politischem System, beherrscht von einer um ihre Privilegien besorgte Kaste aus Adel, Militär und Bürokratie, um dann zu fragen, ob man nicht angesichts der Fülle der "Betriebsunfälle", die Fischers Gegner verharmlosend vorführen, nicht zu den Schluss kommen müsse, dass in dem ganzen Betrieb etwas nicht stimmt. Stern erhält langanhaltenden Beifall, die Kritik an Fischer ebbt mehr und mehr ab.
Fritz Stern - ein "US-Historiker", wie die Presse damals verwundert schrieb - war bis dato nur Eingeweihten bekannt; seit diesem Tag aber ist er in der deutschen Geschichtswissenschaft eine feste Größe. Und seit seinem vielgerühmten Buch über Bismarck und dessen Bankier Bleichröder (1977) gehört er zu den Großen der Zunft. Dieses Buch wie auch andere aus seiner Feder sind wahre Bestseller geworden; die Studie über den "Kulturpessimismus als politische Gefahr" aus den 60er-Jahren ist unlängst wieder aufgelegt worden, die einfühlsamen Essays über Deutschlands Weg im 20. Jahrhundert ("Verspielte Größe") wurden vor zwei Jahren in dritter Auflage publiziert.
Seine jetzt erschienenen Erinnerungen "Fünf Deutschland und ein Leben" zeigen einen Lebensweg, der - paradox genug - als Folge einer brutalen Politik zum Glücksfall für die Geschichtswissenschaft und darüber hinaus allgemein für die politische Bildung und politische Kultur in Deutschland wurde. Fritz Stern wurde im Februar 1926 in Breslau geboren; sein Taufpate war der berühmte Chemiker Fritz Haber, nach dem er seinen Namen erhielt. Stern entstammt einer alten jüdischen Familie, deren Angehörige hochgeachtete Ärzte und Professoren an der Universität Breslau waren. Im Herbst 1938 flüchtete die Familie in die USA, wo sie sich nach mühsamen Anfängen eine halbwegs sichere Existenz aufbauen konnte.
Die Hoffnungen des Vaters, der junge Fritz werde auch Mediziner werden, erfüllten sich nicht. Animiert von Freunden und Dozenten wählte er vielmehr das Studium der Geschichte. Er begann an der Columbia Universität in New York, der er zeitlebens treu blieb. Mit 70 ließ er sich emeritieren, ohne dass seine Energie in der Wissenschaft, seine Neugier auf politische Entwicklungen und sein Engagement für das Gemeinwesen nachgelassen hätten.
Fritz Stern war und ist ein "engagierter Beobachter" - diese Formulierung Raymond Arons lässt er sich gern gefallen. Davon zeugt dieses Buch. Es ist gleichermaßen Lebenszeugnis eines aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftlers als auch ein Buch zur allgemeinen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die ersten Kapitel sind stärker biografisch bestimmt als der zweite Teil, der, da in New York die äußeren Umstände gefestigt sind, weit ausholend auf die deutsche und europäische Geschichte, auf die internationale Politik sowie auf zahllose Begegnungen mit Personen aus Politik, Wissenschaft und Kultur eingeht. Stern ist, wie er schreibt, "immer auf Trab", steht immer "unter Dampf", was auch der Leser spürt: Das Buch ist - von einigen Längen und wenigen Wiederholungen abgesehen - voller Tempo, höchst lebendig und stets mit großem Engagement geschrieben; auf weite Strecken erfüllt es höchste Erwartungen an Stil und Anschaulichkeit. Biografisches wird eingebettet in größere historische Zusammenhänge, diese wiederum sind Anlass zur Schilderung sehr persönlicher Empfindungen und Einsichten.
Zentral ist für Stern die mit dem Ersten Weltkrieg beginnende Katastrophe Deutschlands im 20. Jahrhundert. Seine "fünf Deutschland" sind die Weimarer Republik, die NS-Zeit, die beiden deutschen Staaten nach 1949 und das vereinte Deutschland ab 1990. Sein Fazit ist eindeutig: Deutschland hat sich diese Katastrophe selbst zuzuschreiben, und für die Gegenwart muss alles getan werden, um ähnliche Katastrophen wo immer zu verhindern. Er verhehlt nicht, dass dabei seine Alarmglocken "gelegentlich zu früh" anspringen und dass er ironisch und bissig sein kann, das aber, so schreibt er mit Blick auch auf Amerika - und als Amerikaner fühlt er sich durch und durch -, sei die Pflicht eines jeden Staatsbürgers, Gefährdungen der Demokratie entgegenzutreten. Seine ebenso knappen wie einprägsamen Charakterisierungen einzelner historischer Etappen könnten ein kleines Lehrbuch für sich ergeben.
Stern gesteht, dass ihm 1945 das Leid der Deutschen gleichgültig gewesen sei, ja dass der Hass der Nazis bei ihm Gegenhass hervorgerufen habe. Das Eis brach 1954 bei seinem zweiten Besuch in Deutschland. Bei der Feier im Bendlerblock zum 20. Juli 1944 sah er die "alt, hart und demütig" gewordenen Menschen, da "schämte ich mich meines unterschiedslosen Hasses auf die Deutschen". Er gewinnt mit der Zeit viele Freunde, die Historiker Bracher, Kocka, Winkler und die Mommsens, Ralf Dahrendorf, vor allen aber Helmut Schmidt und die langjährige "Zeit"-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, die ihm nach einiger Zeit das "Du" anbietet. Langsam wird er in Deutschland wieder heimisch, wird ein vielgefragter Redner, so 1987 im Deutschen Bundestag beim Gedenken an den 17. Juni 1953, erhält zahlreiche Ehrungen wie 1999 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. "Wenn nicht jetzt, wann?", antwortet er auf die Frage, ob er glücklich sei. In Osteuropa trifft er viele Dissidenten; in Breslau wird er 2002 Ehrendoktor der Universität, wofür er seinen polnischen Gastgebern mit den Worten dankt: "Sie haben mir ein Stück meiner Vergangenheit wiedergegeben."
"Ich war ein Anhänger der Versöhnung als einem Mittel zur Stärkung der Demokratie", schreibt er. Stets habe er sich bemüht, "ein versöhnliches Verstehen mit ungeschminkten Mahnungen zu verbinden". Davon zeugt dieses anregende, in einigen Passagen unmittelbar bewegende Buch. In summa: Ein außerordentliches Buch eines großen Historikers.
Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 674 S., 29,90 ¤