Aufsatzsammlung
Gedanken von Wolfgang Frühwald
Als die Bundesregierung damit begann, jedes Jahr ein anderes Jahr der Wissenschaft auszurufen, da konnte sich der ein oder andere des Schmunzelns nicht erwehren: Ein Wissenschaftsjahr im Auftrag der Regierung, den Freidenkern und Freiforschern gleichsam von oben verordnet? Inzwischen hat sich gezeigt, dass es den Wissenschaftsjahren durchaus gelingt, Öffentlichkeit für Erkenntnisse und Bedeutung eines Faches, oder - wie in diesem Jahr - einer ganzen Fächergruppe herzustellen: Es ist das Jahr der Geisteswissenschaften, die unter Studierenden ebenso beliebt sind wie sie in der akademischen Welt häufig unterbewertet werden.
Da ist es gut, wenn es prominente Fürsprecher gibt - und die gibt es, in erfreulicher Anzahl und häufig von hoher Überzeugungskraft. Kurz bevor das Jahr der Geisteswissenschaften bald schon wieder zu Ende geht, ist nun noch einmal ein Buch auf den Markt gekommen, dessen Verfasser einer der prominentesten Kuratoren der Geisteswissenschaften in Deutschland ist: Wolfgang Frühwald, seit 1999 der erste Geisteswissenschaftler, der je auf den Sitz des Präsidenten der Alexander-von-Humboldt-Stiftung gebeten wurde. Seit Beginn des Jahres wird der emeritierte Professor für Germanistik nicht müde, ihre Ehrenrettung voran zu bringen, nicht nur, aber gerade auch in Abgrenzung zu den wissenschaftlich immer so hoch gehaltenen Vereinigten Staaten. "Die USA sind das Goldland der Natur- und Lebenswissenschaften", schreibt Frühwald, "Europa ist der eigentliche Kontinent der Geisteswissenschaften."
In mehreren Aufsätzen seiner Schriftensammlung "Wie viel Wissen brauchen wir?" setzt Frühwald sich kritisch-optimistisch mit den Wissenschaften der Dichter und Denker auseinander, beschreibt ihre eigentlich lobenswerte, aber im Zeitalter der Elitewettbewerbe wenig zielführende Abneigung gegenüber dem Selbstmarketing und nimmt sie doch immer wieder in Schutz: Keine wissenschaftliche Arbeit käme ohne das klassisch deutsche Prinzip des einsamen und freien Forschens aus; nicht die Massenuniversität, nicht die Universität als Dienstleistungsunternehmen und auch nicht die Uni im Bologna-Prozess.
Als Lösung in Zeiten stetig und stetig weiter steigender Studierendenzahlen fordert Frühwald mehr als nur die schlichte Wertschätzung und Besserstellung ihrer Disziplinen: Auf Dauer, mutmaßt der mehrfache Professor, werde der deutsche Wissenschaftsbetrieb wohl nicht ohne eine klare Trennung auskommen: zwischen elitären Forschungsinstitutionen mit besten Bedingungen auf der einen Seite und Massen-Ausbildungsinstitutionen, die eher Fachhochschulen ähneln, auf der anderen Seite.
An vielen Stellen schwingt Skepsis mit in den Zeilen des Forschers, der seit Jahrzehnten einer der führenden Köpfe der deutschen Wissensgesellschaft ist: seit 1999 als Präsident der größten im internationalen Austausch tätigen Stiftung und zuvor als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Doch Frühwald ist in all seinen Momentaufnahmen immer nur so skeptisch wie es noch konstruktiv ist. Er erinnert gerne an das, was sein müsste und noch lieber an das, was es zu bewahren gilt: ein kulturelles Gedächtnis, das immer etwas anderes sein wird als eine Wissenssammlung; einen Bildungskanon, der statt Informationswut Klugheit und Urteilsfähigkeit fördert; eine (Rück-)Besinnung auf die humanistische, aber auch auf die humane Bildung; den Erhalt und die Pflege analoger Medien statt "Total-Digitalisierung" und "Digitalisierungs-Euphorie".
So verschieden die Reden und Aufsätze sind, die Frühwald zu ganz verschiedenen Anlässen, geschrieben, gehalten und nun in einem Sammelband veröffentlicht hat - es eint sie eine detailgetreue Darstellung von Beobachtungen, die dem geduldigen Leser an vielen Stellen eine Fülle von so komprimiert selten zu findenden Einblicken in die Bildungsgeschichte gewähren: In die Anfänge der gymnasialen Ausbildung in Deutschland, die Schule nach dem Zweiten Weltkrieg; die Universitäten in den Wirren der 60er-Jahre und im Reformeifer der 70er; in die Schriften der beiden Humboldts, Hans-Magnus Enzensbergers und Theodor Fontanes.
Immer wieder trifft der Leser auf zwei Grundpfeiler: "Erinnerung und Gedächtnis", die beiden großen Bewahrer unserer Kultur, die Frühwald so gerne vor dem neuzeitlich-digitalen Prinzip "Speichern und Vergessen" bewahren würde. Seiner eigenen Erinnerung und seinem Gedächtnis scheint das Informationszeitalter keinerlei Abbruch getan zu haben: Die Fülle von Erinnerungen und historischen Fakten, auf die der 1935 geborene Germanist recurrieren kann, ist enorm. Und weil ein Präsident einer fächerübergreifenden Institution wie der Humboldt-Stiftung auch über andere Dinge zu reden gefragt wird als über seine ureigenste wissenschaftliche Nische, reichen die zu Papier gebrachten Gedanken bis hin zu Klimawandel und Neurologie.
Erschienen ist das Buch bei einem neuen Verlag, der zwar 2000 gegründet wurde, aber nun erst nach einem Eigentümerwechsel die ersten Bücher herausbringt. Er heißt Berlin University Press und hat am 24. September sein erstes Programm vorgestellt. Seine Vorbilder finden sich in den USA, wo es längst üblich ist, dass Universitäten ausgewählte Werke ihrer Professoren auch der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Anders als die US-amerikanischen Verlage ist Berlin University Press allerdings nicht an eine Universität angebunden, sondern ein rein privatwirtschaftliches Unternehmen unter der Leitung des ehemaligen Suhrkamp- und DuMont-Mitarbeiters Gottfried Honnefelder.
In Zukunft will Berlin University Press in jedem Jahr einige ausgewählte Bücher an den Schnittstellen von Wirtschaft und Gesellschaft sowie zu drängenden philosophischen Fragen veröffentlichen. Ein Anfang ist gemacht.