Hans Haacke
DER BEVÖLKERUNG im nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes
© VG Bild-Kunst, Bonn 2008
Bestandteil des Projektes ist eine eigene Website.
Hans Haacke, geb. 1936 in Köln, "DER BEVÖLKERUNG", 1999/2000
Hans Haackes Installation DER BEVÖLKERUNG wurde als letztes
der Kunst-am-Bau-Projekte für das Reichstagsgebäude
eingebracht. Auf Einladung des Kunstbeirates hatte der
Künstler für den nördlichen Innenhof einen Entwurf
entwickelt, der vorsah, in diesem Innenhof eine große, von
Holzbohlen eingefaßte Fläche anzulegen. Die Abgeordneten
sollten eingeladen werden, auf dieser Fläche Erde aus ihren
Wahlkreisen auszustreuen. Der Künstler schlug vor, in der
Mitte des gärtnerisch nicht betreuten, frei wuchernden Biotops
die Inschrift DER BEVÖLKERUNG in Neonlichtbuchstaben leuchten
zu lassen, diese geformt in derselben von Peter Behrens entworfenen
Schrifttype wie die Buchstaben der zentralen Giebelinschrift DEM
DEUTSCHEN VOLKE aus dem Jahre 1916.
Webcam dokumentiert Fortlauf des Projekts
Dieser Entwurf löste innerhalb und außerhalb des
Parlamentes eine lebhafte Diskussion aus. Die Kontroverse
entzündete sich an der Frage, ob mit der Neon-Inschrift eine
Korrektur der zentralen Giebelinschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE
vorgenommen werde, mithin Verfassungsmaximen der Bundesrepublik
Deutschland in Frage gestellt werden, oder ob die Schrift im
Innenhof eine legitime Ausweitung des Sinnes der Giebelinschrift
bedeute und einen Denkprozeß in Gang setzen solle. Mit
knapper Mehrheit setzten sich im Bundestag die Befürworter der
Installation Haackes durch, so daß diese im September 2000
dem Bundestag übergeben werden konnte. Seitdem bringen
Abgeordnete Erde aus ihrem Wahlkreis oder treffen sich mit
Bürgerinnen und Bürgern ihres Wahlkreises, die zu Besuch
im Parlament sind, füllen gemeinsam die Erde ein und tauschen
dabei Informationen über die Herkunft der Erde und ihre Rolle
in der Geschichte und der Wirtschaft des Wahlkreises aus.
Später können die Besucher unter der Internet-Adresse "
www.derbevoelkerung.de" dank einer im Hofe
installierten Webcam verfolgen, was auf diesem Erdreich wächst
und gedeiht. So steht allen Interessierten über diese
Internet-Seite gleichsam ein Fenster zum Innenhof des
Reichstagsgebäudes offen.
Bezug auf konkretes politisches, soziales und kulturelles Umfeld
Hans Haacke lebt seit den 60er Jahren in New York und lehrt dort
an einer der bedeutendsten Kunsthochschulen der Vereinigten
Staaten, der Cooper Union. Sein künstlerisches Schaffen ist
seit Beginn der sechziger Jahre auf die Entwicklung spezifischer
Formen einer ”Prozeßkunst” gerichtet. Sein Ziel
ist es, modellhaft physikalische, biologische oder
gesellschaftliche Prozesse vor Augen zu führen und so die
ihnen zugrunde liegenden Strukturen anschaulich werden zu lassen.
Haackes Installationen beziehen sich daher immer auf ihr konkretes
politisches, soziales und kulturelles Umfeld und fordern den Dialog
mit dem Betrachter heraus. Dieser Dialog ist mithin Teil seines
Kunstwerkes, unabhängig davon, ob es sich um ablehnende oder
zustimmende Stellungnahmen handelt. Entscheidend ist, daß der
Betrachter Stellung bezieht, auf diese Weise partizipatorisch
einbezogen ist und sich mit Haackes Projekten gedanklich
auseinandersetzt.
Spannungsverhältnis zur Giebelinschrift
In diesem Sinne wird zwischen der Innenhofinschrift und der
Giebelinschrift des Westportals des Reichstagsgebäudes ein
Spannungsverhältnis erzeugt, das zum Nachdenken und zu
Diskussionen über Rolle und Selbstverständnis des
Parlamentes anregt.
Gegensatz zum steinernen Innenhof
Darüber hinaus weist das Zusammentragen der Erde durch die
Abgeordneten auf die Verantwortung des Menschen gegenüber der
Umwelt hin. Erde erinnert an die Endlichkeit des Menschen und an
die Gleichheit aller Menschen angesichts ihrer Endlichkeit.
Zugleich mahnt der Umgang mit Erde und das aus ihr Erwachsende,
nicht Vorhersehbare der Vegetation, die Grenzen des technisch und
politisch Machbaren zu erkennen. So wird durch dieses Biotop eine
frei wuchernde Vegetation im Innenhof des High-Tech-Gebäudes
von Foster im lebendigen und reizvollen Gegensatz zum steinernen
Innenhof geschaffen. Die Vermischung der Erde aus allen Wahlkreisen
bekräftigt zudem die Zusammengehörigkeit aller Regionen
und die Feststellung, daß die im Parlament verhandelten
Fragen alle Bürger gleichermaßen betreffen.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages