Nach und nach treten etwa 20 Kinder auf die Bühne. Immer zwei tanzen miteinander. Mal ist der Tanz wie die Brutalität einer Großstadtgang: Angedeutete Ohrfeigen, Tritte, ein Überwurf über die Schulter. Dann folgt der Tanz der Schönheit der Naivität mit einem fröhlich-übermütigen Ringelreihen.
Das, was die 6. Klasse der Kreuzberger Bürgermeister-Herz-Grundschule auf der Bühne des Jugendkulturzentrums Pumpe in Berlin-Schöneberg vorführt, ist das Ergebnis von sechs Monaten Arbeit an einem besonderen Tanzprojekt, das Livia Patrizi vor etwa einem Jahr ins Leben gerufen hat. Die 38-Jährige, aufgewachsen in Neapel, ausgebildet an der Folkwang-Hochschule in Essen und später Tänzerin in verschiedenen internationalen Kompanien, arbeitet bereits seit 1999 in Berlin als freie Choreografin und Tanzlehrerin mit Kindern und Jugendlichen. Bei einem dieser Tanztheaterprojekte kam ihr im Oktober 2004 die Idee, den Tanzunterricht an die Schulen zu bringen - nicht als Nachmittags-AG, sondern als eigenes Fach im regulären Unterricht. "Denn so erreicht man auch die Kinder, die niemals freiwillig kommen würden", erklärt Livia Patrizi, "und das sind oft genau jene, die das Tanzen dringend brauchen könnten."
Wie richtig Patrizi mit ihrer Einschätzung liegt, zeigen diverse wissenschaftliche Studien: Schon seit einigen Jahren geben sie deutliche Hinweise darauf, dass die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen sukzessive abnimmt. Manche Studien, wie der "Erste deutsche Kinder- und Jugendsportbericht" des Karlsruher Sportwissenschaftlers Klaus Bös, gehen davon aus, dass ihre Leistungsfähigkeit in den letzten 25 Jahren um durchschnittlich mehr als zehn Prozent gesunken ist. Andere Studien, wie die des Wissenschaftlichen Instituts der Ärzte Deutschlands, gehen gar von 20 Prozent aus. Besonders schlecht steht es um die Laufausdauer und die Beweglichkeit der Kinder. Der Grund: Bewegungsmangel. Welche Defizite schon Grundschüler haben, soll nun eine neue, bundesweite Motorik-Studie untersuchen, an der die Sportwissenschaftler aus Karlsruhe zur Zeit noch im Auftrag des Bundesfamilienministeriums arbeiten. Die Auswertung beginnt zwar erst Ende des Jahres, doch die Testergebnisse einzelner Probanten lassen auf nichts Gutes schließen: Bei vielen Kindern ist die Koordinationsfähigkeit so eingeschränkt, dass sie kaum auf einem Bein stehen oder rückwärts balancieren können.
Gegen diese Folgen des Bewegungsmangels, will "TanzZeit" etwas tun. Denn mehr noch als im normalen Sportunterricht, so glaubt Patrizi, können Kinder beim Tanzen ein Gespür für ihren Körper und die eigenen Empfindungen entwickeln. Doch neben diesen Aspekten geht es der Choreografin auch darum, Kindern schon in jungen Jahren Tanz als Kunstform näher zu bringen. Zusammen mit Cornelia Baumgart, der heutigen pädagogischen Leiterin, gründete Patrizi deshalb die Initiative "TanzZeit - Zeit für Tanz in Schulen" - und stieß damit auf viele offene Ohren: Ein Symposium, zu dem die Tänzerin im April 2005 in Berlin einlud, war ein voller Erfolg. Unter den Gästen waren nicht nur Tanzschaffende wie der Choreograf Royston Maldoom, bekannt für seine Arbeit mit Straßenkindern in dem Dokumentarfilm "Rhythm is it", sondern auch rund 200 Lehrer. Sehr wichtig war allerdings auch, dass Patrizi sofort eine Unterstützerin in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung fand: Die Referentin Renate Breitig war von der Projektidee begeistert und sagte gleich ihre Hilfe zu. "Das war ein großes Glück, dass ich sofort jemandem am Telefon hatte, der sagte "das ist gut, das sollten wir unbedingt machen", erinnert sich Livia Patrizi. Die Empfehlungsschreiben der Senatsverwaltung an die Berliner Grundschulen hatten dann auch eine unerwartet große Resonanz. Bereits im August 2005 konnte "TanzZeit" mit 37 Schulklassen an 25 Grundschulen starten. Nun stehen 50 weitere Schulen auf der Warteliste.
Für die etwa 1.000 Schulkinder zwischen sieben und zwölf Jahren bedeutete der Beginn der Pilotphase von "TanzZeit" zunächst einmal einen ungewöhnlichen Unterricht: Einmal in der Woche stand eine Doppelstunde Tanzen mit jeweils zwei Choreografen pro Klasse auf dem Plan. Als Lehrende mit dabei: Dan Pelleg und Marko Weigert von der Wee Dance Company, sowie Sasha Waltz, bislang an der Berliner Schaubühne, die die Schirmherrschaft für "TanzZeit" übernommen hat.
"Viele Kinder stellten sich unter Tanzen etwas ganz anderes, etwas Steifes vor", erzählt Patrizi. "Gerade die Jungs hatten Vorurteile." Doch die wurden im Unterricht schnell zerstreut. Schließlich geht es hier um Bewegung, Ausdruck von eigenen Gefühlen - und das kann Spaß machen: "Ich war selbst erstaunt, wie die Kinder auf den Unterricht reagiert haben", sagt Patrizi. "Die hatten ein enormes Bedürfnis nach Körperkontakt." Auch wenn die Jungs und Mädchen das nicht zugeben würden. "Denn eigentlich ist Köperkontakt bei Kindern in dem Alter ein schwieriges Thema", so die Tanzlehrerin, "gerade die Jungs haben ein Problem damit. Manche kennen Körperkontakt nur vom Spielen, oft auch nur im Kontext von Gewalt." Doch nachdem sie gelernt haben, dass sie beim Tanzen eine Rolle übernehmen, war es auch für sie in Ordnung einander anzufassen.
Die Kinder lernen in diesem Unterricht etwas Neues kennen, von dem sie intuitiv verstehen, dass es ihnen gut tut. Lehrer und Eltern hingegen können ganz konkrete Veränderungen im Verhalten ihrer Kinder und Schüler ausmachen. Wie etwa Ursula Schmidt-Eichstaedt, Schulleiterin und Lehrerin in der Spandauer Grundschule am Eichenwald. Sie hat bemerkt, dass "Jungen- und Mädchengruppen sich angenähert haben und so ein ganz neues Gemeinschaftsgefühl entstanden ist". Eine andere Lehrerin registrierte, wie viel ausgeglichener ihre Klasse seit Beginn des Tanzunterrichtes ist.
Es sind viele kleine Veränderungen, die "TanzZeit" in Klassen und im Wesen einzelner Schüler bewirkt hat: "Ein lernbehindertes Kind erlebte plötzlich, dass es im Tanzunterricht das Beste war", erzählt Livia Patrizi, "ein anderes, dass sich früher kaum eine Minute lang konzentrieren konnte, hält nun eine Stunde aus". Natürlich sei Tanzunterricht nicht einfach eine Therapie, die aus allen Kindern Genies mache, meint die Choreografin, doch die positiven Rückmeldungen seien eine Bestätigung, dass Tanz Kinder fördere -- und dass das Projekt nach der Pilotphase weitergeführt werden solle.
Nun steht fest, dass Patrizi und die anderen weiterarbeiten können. Zumindest bis Ende 2006 ist die Zukunft von "TanzZeit" gesichert: Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur unterstützt das Projekt mit rund 48.000 Euro. Das deckt zwar bislang nur die Hälfte der voraussichtlichen Fixkosten, denn "TanzZeit" fehlt noch ein ausgestattetes Büro. Und eigentlich bräuchten die Organisatoren auch Geld für Material, Fortbildung der Lehrenden und die wissenschaftliche Evaluation.
Aber Barbara Kisseler, Staatssekretärin für Kultur, ist von diesem besonderen Tanzprojekt so überzeugt, dass sie prüfen lassen will, ob sich im Rahmen des bestehenden Haushalts nicht doch noch etwas mehr Geld locker machen lässt. Dann könnten nicht nur die Sechstklässler der Bürgermeister-Herz-Grundschule weitermachen, sondern dann stände auch für viele andere Schüler in Berlin Tanzen regelmäßig auf dem Stundenplan.