Mit zehn beziehungsweise zwölf neuen Mitgliedstaaten - wenn man die bevorstehenden Beitritte Bulgariens und Rumäniens hinzunimmt - stellt die Osterweiterung alle früheren Beitrittsrunden der Europäischen Union in den Schatten. Stellten die Nord- und Süderweiterung noch eine Fortschreibung der überkommenen Integrationslogik dar, die durch eine Wechselbeziehung von Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft charakterisiert gewesen ist, so markiert die jetzige Betrittsrunde in doppelter Hinsicht eine Zäsur.
Einerseits wirft sie die Frage nach der territorialen und politischen Finalität der Union auf, andererseits erweist sie sich als potenzielles Hindernis für weitere Integrationsfortschritte, das den Traum von einem europäischen Bundesstaat in große Ferne zu rücken scheint. Daran ändern auch die institutionellen Verbesserungen nichts, die im Rahmen des Verfassungsvertrages erreicht werden sollen.
Das Jahrbuch 2005 des Berliner Wissenschaftzentrums (WZB) vermittelt einen Einblick in die vielfältigen Forschungsprojekte, die die am WZB vertretenen Disziplinen in den vergangenen Jahren zu Fragen der sozialen und politischen Integration Europas durchgeführt haben. Deren Gegenstände reichen von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen und -mustern in den europäischen Ländern, die an den Beispielen Familie, Wohnen, zivilgesellschaftliches Engagement und soziale Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit im ersten Teil des Bandes erörtert werden, bis zu den im dritten Teil entfalteten historischen und sozialräumlichen Perspektiven einer die Grenzen des Nationalstaates überschreitenden Europäisierung.
Das Bindeglied zwischen beiden Teilen bildet die Frage nach der demokratischen Qualität und Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft. Dabei sind durchaus un-terschiedliche Akzente erkennbar. Während Sascha Kneip und Alexander Petring die im Verfassungsvertrag vereinbarte Neujustierung des institutionellen Entscheidungssystems als Schritt "hin zu einer demokratischeren Union" loben, kommen Sonja Grimm und Wolfgang Merkel zu dem wesentlich pessimistischeren Befund, dass die "institutionell unvorbereitete Osterweiterung" eine Vertiefung der Integration in Zukunft nicht mehr erlaube - zu groß sei das Leistungs- und Interessengefälle in der auf 25 Mitglieder angewachsenen Gemeinschaft. So sehr man dieser These zustimmen möchte, so irritierend bleibt es, dass die Konsequenzen der Erweiterung in dem Beitrag durchweg negativ und allein aus der Perspektive der aufnehmenden 15er-Gemeinschaft beschrieben werden.
Den Kontrapunkt zu dieser geschlossenen, im Grunde rückwärtsgewandten Position setzen Jens Alber und Ralf Dahrendorf im dritten Teil des Bandes. Beide wenden den Umstand, dass mit der bisherigen Koppelung von Erweiterungs- und Vertiefungsprozessen auch die Möglichkeit einer weiteren supranationalen Staatenbildung in Europa an ihr Ende gekommen sei, ausdrücklich ins Positive, indem sie die Möglichkeiten der breiten Vielfalt und Offenheit des Integrationsprozesses nach innen und außen betonen. Der Beitritt weiterer Länder wie der Türkei oder der Balkan-Staaten gerät ihnen deshalb ebenso wenig zu einem Schreckensszenario wie das Herabsinken der Europäischen Union zu einer gehobenen Freihandelszone mit unterschiedlichen nationalen Sozialmodellen.
Dahrendorf lehnt sogar den Verfassungsvertrag als unerwünschtes Element der Schließung ab und freut sich darüber, dass er uns "erspart" geblieben sei. Auch dies mag eine Extremposition sein, die aber deutlich macht, wie wenig Konsens im Grunde darüber besteht, welches Europa wir überhaupt wollen und wie man am besten dort hingelangt. Die lesenswerten Beiträge des WZB-Jahrbuchs vermitteln von dieser Unentschiedenheit einen guten Eindruck.
Jens Alber / Wolfgang Merkel (Hrsg.)
Europas Osterweiterung:
Das Ende der Vertiefung?
Jahrbuch 2005 des Wissenschaftszentrums Berlin. edition sigma, Berlin 2005; 427 S., 27,90 Euro