Sein Leben war bestimmt vom Trotzdem. Paul Spiegel, am 30. April verstorbener Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat die nationalsozialistische Entrechtung und Verfolgung noch persönlich erlitten. 1939 musste er, noch nicht einmal zwei Jahre alt, mit seiner Familie aus dem münsterländischen Warendorf nach Belgien fliehen. Seine geliebte ältere Schwester Rosa wurde 1942 in Auschwitz ermordet, sein Vater Hugo in drei Konzentrationslagern geknechtet und gequält. Er selbst überlebte die Shoah versteckt bei einer katholischen Bauernfamilie in Flandern. Trotzdem kehrte Paul Spiegel 1945 mit seinen Eltern in seine Heimat, das Land der Täter, zurück. Die jüdischen Gemeinschaften in Deutschland waren zerstört, der Antisemitismus mit dem Ende des Nationalsozialismus keineswegs erledigt. Vielen Juden war es unverständlich, als Jude in Deutschland bleiben zu wollen. Trotzdem engagierte sich Spiegel für den Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Deutschland, zunächst von 1967 in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. 1993 wurde Spiegel zu einem der zwei stellvertretenden Präsidenten des Zentralrates der Juden gewählt. Als sein Amtsvorgänger Ignatz Bubis 1999 starb, riss sich Spiegel nicht um das Amt des Zentralratspräsidenten. Trotzdem übernahm der gelernte Journalist und Unternehmer wenige Monate später die Verantwortung, wurde zur moralischen Instanz, die er nach eigenen Worten nie sein wollte.
In seiner Amtszeit schwand wie schon bei Bubis im Laufe der Jahre die Gewissheit, etwas erreichen zu können - etwa, dass Juden als selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft angesehen werden. Es ist noch nicht lange her, da sagte Spiegel, er könne Bubis inzwischen verstehen. Sein Amtsvorgänger hatte in seinem letzten Interview erklärt, er habe "nichts oder fast nichts bewirkt". Dieser Einschätzung mag etwa der Staatsvertrag entgegengehalten werden, den Spielgel mit der Bundesregierung im Januar 2003 aushandelte und der eine wichtige finanzielle Grundlage für das jüdische Leben in Deutschland darstellt.
Zunehmend zweifeln ließen Spiegel Vorkommnisse wie die Erfindung jüdischer Vermächtnisse, mit denen die hessische CDU die Herkunft von Schwarzgeldern erklären wollte oder die Versuche des FDP-Frontmanns Jürgen Möllemann, im Bundestagswahlkampf 2002 mit antisemitischen Anspielungen auf Stimmenfang zu gehen. Es waren Momente, in denen die rheinische Frohnatur aus der Haut fahren konnte, klare, mitunter harte Worte fand. "Er mahnte, wo viele stumm blieben", brachte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) diese herausragende Eigenschaft Spiegels jetzt auf den Punkt.
Spiegel vermisste oft den Aufschrei der Gesellschaft. Der Antisemitismus sei schlimmer geworden, bilanzierte er vor nicht allzu langer Zeit. Trotzdem lebte er, wie er stets beteuerte, gern in seinem Land. Und so hat er sich trotzdem, anders als Bubis, der eine Schändung seines Grabes in Deutschland fürchtete, am
4. Mai in Deutschland beerdigen lassen. Ein Vertrauensvorschuss, ohne Frage.