Karl Heinz Bohrers Essay in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über den "aus der Tiefe des Raumes" kommenden Günter Netzer markierte den Beginn des Fußball-Feuilletons. Der Kulturjournalismus entdeckte den Sport Anfang der 70er-Jahre. Jürg Altwegg beschreibt den Beginn als ein "Phänomen der Postmoderne". Kurzum: Der Fußball gehörte fortan "zur Gegenwartskultur eines erweiterten Kulturbegriffs".
Am Anfang war die Ästhetisierung des 70er- Jahre-Fußballs, der stilbildenden Bayern-Gladbach-Duelle, der Netzer-Nostalgien und Kaiser-Franz-Hymnen. Solche Versuche kamen mitten aus dem intellektuellen 68er-Milieu, das seine verlorenen gegangene Spontaneität auf dem Rasen wieder zu entdecken glaubte. Einen Ausläufer dieser ersten Ästhetisierungswelle stellte die sozialromantische Suche nach letzten ursprünglichen Straßenfußballern und die Lobpreisung randständiger Außenseiter wie dem SC Freiburg oder dem FC St. Pauli dar. Sie wurden als Kronzeugen der Utopie des schönen Kurzpassspiels oder des Überlebenskampfes freudvoll sich wehrender Underdogs beschworen.
Doch die sportliterarische Gegenwelle ließ nicht lange auf sich warten. Autoren wie Christoph Biermann wollten sich nicht länger mit Pop-Ikonen wie Netzer, Beckenbauer, Breitner oder George Best herumschlagen. Ihnen ging es um scheinbar mehr - die Ergründung der "geheimen Faszination Fußball" wie einer "neuen Fußballbegeisterung". Die Phase der Fankurvenleidenschaft war angesagt, das hieß zum Beispiel auch die irrationale Identifikation mit einem ewigen Abstiegskandidaten wie dem VfL Bochum. Sie war plötzlich wichtiger als der Netzerismus à la Böttiger, die schöngeistigen Theateranalogien à la Benjamin Henrichs oder die in Mode gekommenen Politvergleiche von Trainern und Kanzlern, Mannschaften und Parteien. Zum literarischen Highlight der neuen Fankurvenleidenschaft avancierte Nick Hornbys Bestseller "Fever Pitch" über die Faszination im Highbury Park des Arsenal London.
Entgegen der am Stadion-Event orientierten Fan-Literatur machte sich Mitte der 90er-Jahre eine weitere Fraktion im Fußball-Feuilleton auf, um gleichsam in anti-hegelianischer Pose allen Schwärmern des runden Ledern vehement Paroli zu bieten. "Es gibt nichts Schöneres als einen triumphalen Sieger", rieb sich der postmoderne Philosoph Norbert Bolz an der Melancholie jener Intellektuellen, denen weniger der bloße Gewinn als der spielerisch unverdiente oder unschön herausgespielte Sieg ein Dorn im rasenästhetischen Auge ist.
In die gleiche Kerbe hieb auch Dirk Schümer Ende der 90er-Jahre, indem er der Fußball-Verzauberung jedweder Art den Kampf ansagte. Fußball sei ein Sport von "Männern ohne Eigenschaften". Dabei beging er das Sakrileg, erstmals die sagenumwobenen 70er-Jahre-Highlights wie die 3:4-Schlacht von Azteka zwischen Deutschland und Italien (1970) oder das unvergessene Pokalfinale zwischen Mönchengladbach und dem 1. FC Köln (1973) als lendenlahme Langweilerkicks im Serientempo abzutun. Stattdessen plädierte er für eine Abkehr von allen ästhetischen Ansprüchen, Geniestreicherwartungen und Heldenepen, denn, so Schümer: "Fußball ist Schwachsinn, eigentlich unerträglich, das Drumherum so unsäglich dumm und nichtig." Doch behaupten konnte sich diese nüchterne Betrachtungsweise erwartungsgemäß nicht. Denn mit Macht setzte um die Jahrtausendwende eine zweite Ästhetisierungswelle ein, die sich auf dem Büchermarkt breit machen sollte. Gefragt waren von nun an nicht mehr nur sportlich interessierte Feuilletonschreiber, sondern veritable Schriftsteller, die entweder als Fußballkenner oder -liebhaber geoutet wurden, anhand biografischer Momente oder bislang unentdeckter Textstellen.
Daneben wurde die Gedichtkunst groß geschrieben, geleitet von den lyrischen Klassikern: Friedrich Torbergs antifaschistisch missratener Verzweiflungsschrei über den unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Wiener Wunderstar Sindelar ("Geist in den Beinen"), die Hymne von Ludwig Harig auf Fritz Walters Eck- und Strafstoßkünste bis hin zu Eckhard Henscheids nicht enden wollender Ode auf den südkoreanischen Flügelstar in Diensten von Eintracht Frankfurt, Bum Kun Cha.
Ein Genre hob ab und distanzierte sich vom vormals klassischen Desinteresse vieler Literaten am Fußball, das von Umberto Ecos feindseligem Verhältnis gegen den "durch und durch faschistischen Schausport" bis zu Martin Walsers Bemerkung reicht, sinnloser als Fußball sei nur das Sinnieren über Fußball.
Das Kapitel "Literatur und Politik" begann mit Peter Handkes "Die Angst des Torwarts vor dem Elfmeter", in dem der Autor mit der Feststellung auch Teile seiner Zunft zu motivieren schien: "Der Fußball hat eine Seele." Komplementär dazu betonte der andere Fußball-Klassiker Ror Wolf, dass die Welt zwar kein Fußball sei, "aber sich im Fußball eine ganze Menge Welt findet."
Seit geraumer Zeit gibt es mit Blick auf die WM 2006 kein Halten mehr, was die Beschreibung des Fußballs als Ästhetikum angeht. Exemplarisch dafür schwelgt etwa Georges Haldas: "Gewisse Künstler haben ein Sensorium für die Zukunft, bei genialen Fußballern ist es genauso - aber sie dürfen es nicht wissen - sonst wäre es mit der Kunst vorbei."
"Kopfballspieler" hieß vor vielen Wochen auch eine mehrtätige Veranstaltung im Rahmen des Kunst- und Kulturprogramms zur Fußball-WM 2006. Darin machte sich ein angesehenes internationales Ensemble von Schriftstellern über den Fußball her, offenbar fasziniert davon, es mit einem der letzten verbliebenen gesellschaftlichen Bereiche zu tun zu haben, der noch alle zu einen scheint, vom Hilfsarbeiter bis zur Bundeskanzlerin. Doch wenn Dichter über Fußball reden, geht es in der Regel um Mythen und Anekdoten. Péter Esterházy erinnerte dabei an die Ähnlichkeit zwischen Fußballprosa und Familienroman. Die Rede ist von Melodramatik, Tragik und Sentimentalität, wie sie aus den Himmelhochjauzend-zu Tode betrübten Sprechchören in Stadien zu triefen pflegt. Man weine bei der Erinnerung an gute Spiele, pflichtete Burkhard Spinnen bei, während Javier Marias von den weißbedressten Königlichen Real Madrids ins Schwärmen geriet, als handle es sich um eine frühere Geliebte. "Fußball ist Krieg", konstatierte Per Olof Enkvist, aber zum Glück wechselten ständig die Feinde. Tom Parks verwies darauf, dass Fußball zwar nichts mit Völkerverständigung zu tun habe, die Ironie des Fußballs aber darin liege, dass die Emotionen der Fans echt seien, es aber dennoch nicht um Leben oder Tode gehe - wenn man von hooliganistischen Ausnahmen einmal absieht. Der österreichische Schriftsteller Franzobel klammerte sich eher an die Alternative, dass Fußball "entweder der magische Moment oder das absolute Nichts" sei. Immerhin wandte der Autor bei aller Fußballbegeisterung ein, wie öde, mittelmäßig und langweilig Fußball meistens sei, so dass er häufig
auch einen Anflug von Hass auf den "Zeitver-schlinger und Lebenszeitvernichter Fußball" kaum leugnen könne.
Gerade den aktiven Kickern dürfte derlei schöngeistige Überfrachtung ihrer Tretkünste kaum schmecken.
Doch auch hier gibt es mittlerweile Ausnahmen in der kickenden Zunft - wie den französischen Superstar im Team der "Gunners" von Arsenal London - Thierry Henry, der sich seines außergewöhnlichen Spieles mitlerweile derart bewusst ist, dass er es durchaus als Kunst im ephatischen Sinn verstanden wissen möchte. Wenn aber erst intelligentere Spieler sich daran machen, ihr Spiel ästhetisch aufzuwerten und so leichtfüßig von Kunst reden wie Günter Netzer in seinen TV-Statements von seiner "Philosophie", dann dürfte die Welle der Fußball-Ästhetisierung auch nach der WM 2006 weiterschwappen.
Zudem assistieren den Schriftstellern längst Fußball-Philosophen beim Versuch, den früheren Proletensport als Ästhetikum wahrzunehmen. So schrieb unlängst Walter Delabar in einem Essay im "Merkur", dass es mittlerweile konsensfähig sei, das niveauvolle Spiel für Kunst zu halten: "Schönheit ist eine Qualität der Abstraktion und der Komplexität, der Leichtigkeit und der unerwarteten Varianz des Spieles in seiner Entfaltung, also des hohen Niveaus. Dass dies schön, ästhetisch, mithin als Kunst erfahren wird, will nichts anderes als seine qualitative Auszeichnung."
Immerhin erhebt Schriftsteller Péter Esterházy gegen die inflationierenden Künstler-Fußballer-Vergleiche indirekt berechtigten Einspruch - aber zugunsten der Kicker, denn: "Der Schriftsteller ist einsam, Zidane ist es nicht."
Norbert Seitz ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte". Im Jahr 1997 erschien sein Buch "Doppelpässe. Fußball & Politik". Seine jüngste Buchveröffentlichung "Die Kanzler und die Künste" erschien 2005.