Mit einer symbolischen roten Karte rügte die Stiftung Warentest im Januar vier deutsche Fußballstadien und löste damit eine kontroverse Debatte über die Sicherheit in den WM-Arenen aus. Rund fünf Monate vor Beginn der Weltmeisterschaft diskutierten Fußball-Funktionäre, Warentester, Sicherheitsexperten und Politiker heftig miteinander. Der Grund: Die Stiftung Warentest hatte in einer Studie zur baulichen Sicherheit der zwölf WM-Spielstätten bei den Arenen in Berlin, Gelsenkirchen, Leipzig und Kaiserslautern erhebliche Mängel festgestellt. Diese könnten "im Falle einer Panik verheerende Folgen" haben, schrieb die Stiftung in ihrer Zeitschrift "test". Folgen hatte jedoch die Studie vor allem für die sonst so angesehene Stiftung Warentest: Die Prüfer gerieten selbst auf den Prüfstand.
Kritisiert wurde die Studie vor allem deshalb, weil sie sich auf den Physiker Michael Schreckenberg und sein Modell zur Analyse von Panikszenarien bezog. Der Duisburger Professor beschäftigt sich seit Jahren mit der digitalen Panikforschung und simuliert per Computer, wohin und wie schnell Menschenmassen aus einem Stadion flüchten, wenn sie in Panik geraten. Schreckenbergs Simulationen zufolge streben die Menschen vor allem die Stadiontribünen hinunter in Richtung Spielfeld. Doch das ist unter Brandschutz- und Evakuierungsexperten durchaus umstritten. Wie sich Menschen verhalten, lasse sich auch mit Computersimulationen nicht absolut verlässlich voraussagen, so die Kritiker. Doch Michael Schreckenberg ist überzeugt: Zäune oder Gräben, die rund um das Spielfeld gezogen wurden, um Fußballfans davon abzuhalten, in die Mitte des Stadions zu laufen, würden bei Massenpanik zur gefährlichen Falle. Da sich der Druck auf den steilen Tribünen leicht nach unten verlagere, könnten Menschen zu Tode gedrückt werden. Die Stadien, forderte Schreckenberg und in der Folge auch Stiftung Warentest, sollten genügend Fluchttore zum Spielfeld besitzen, und auch die Gräben müssten im Katastrophenfall zu überbrücken sein.
Doch mit einem Fluchtweg über das Spielfeld widerspricht die Stiftung Warentest allen bislang in Deutschland geltenden Regeln des Baurechts und des Brandschutzes. Diese Vorschriften sehen nämlich stets eine Entfluchtung über zwei unabhängige Rettungswege nach außen ins Freie vor - niemals ins Innere eines Gebäudes. Dort aber liegt das Spielfeld, spätestens seitdem alle WM-Stadien überdacht worden sind. "Wer möchte, dass die Menschen dorthin geleitet werden, der soll auch sagen, wie sie von dort wieder wegkommen", so die Reaktion des Bauingenieurs Harald Niemöller.
Niemöller arbeitet für das Ingenieurbüro "hhpberlin". Er hat das Brandschutzkonzept für die Allianz-Arena in München erstellt und den Umbau des Berliner Olympiastadions als Sachverständiger begleitet. Die Vorwürfe der Stiftung hält er für unangebracht. Fast drei Jahre lang arbeitete er eng zusammen mit Architekten und Baubehörden, Feuerwehr und Polizei an dem Brandschutzkonzept des Münchner Stadions - wenn nötig auch mit Computersimulationen, um es zu testen. Die rechtliche Grundlage für seine Arbeit ist die Versammlungsstättenverordnung. Sie enthält Vorschriften zu Sicherheit und Brandschutz, angefangen von den Materialien, die beim Bau verwendet werden dürfen bis hin zu Anzahl, Führung und Länge von Rettungswegen. Für Versammlungsstätten ab 10.000 Besuchern müssen im Zuschauerbereich so genannte Wellenbrecher installiert werden, um zu verhindern, dass unkontrollierte Menschenmassen zu schnell in Bewegung kommen und einzelne Menschen niedergetrampelt werden. Auch Abschrankungen zum Spielfeld mit Toren, die im Bedarfsfall nach Innen geöffnet werden können, sind hier vorgeschrieben.
Ganz so, wie Schreckenberg es fordert. Dieser hat jedoch Probleme mit der Versammlungsstättenverordnung selbst: Sie sei, wie das gesamte Baurecht, Ländersache. Einzelne Bestimmungen könnten von Bundesland zu Bundesland durchaus von einander abweichen. "Im Zweifel trifft ein Brandmeister die Entscheidung, ob das Stadion abgenommen wird oder nicht", kritisiert der Physiker. Schreckenberg setzt sich deshalb für internationale Standards ein, die schon bei der Europameisterschaft 2008 zum Tragen kommen sollen. "Die FIFA müsste diese Sicherheitsstandards für alle Stadien verbindlich vorschreiben", findet der Professor.
Tatsächlich hat die FIFA bereits Richtlinien in einem "Pflichtheft" zusammengefasst. Doch bei der Evakuierung verweist sie wiederum auf das jeweilig geltende Baurecht der Länder. "De facto gibt es keine internationalen Standards", moniert Schreckenberg.
Harald Niemöller findet dagegen, dass die Stiftung Warentest statt Panik zu vermeiden, Panik geschürt hat. "Alle Stadien haben ein gültiges Brandschutzkonzept, das mit den Behörden, der Feuerwehr und der Polizei abgestimmt wurde - auch die FIFA hat es abgenommen, niemand hatte etwas zu beanstanden", sagt er. Vergleiche mit Arenen, in denen in der Vergangenheit schwere Unfällen passierten, wie etwa im Brüsseler Heysel-Stadion (1985) oder im englischen Sheffield (1989), hält er nicht für zulässig. In beiden Stadien waren Fußballfans von in Panik geratenen Menschenmassen an Zäunen und Mauern zu Tode gedrückt worden. Diese Gefahr sieht Niemöller in den deutschen Arenen nicht: "Das waren ausländische Stadien, die Unfälle sind dort im Stehplatz-Bereich passiert." Und Stehplätze gibt es in den WM-Stadien nicht.
Der Verzicht auf Stehplätze, den die FIFA seit einigen Jahren übt, ist Ausdruck eines gewandelten Sicherheitsverständnisses. Noch in den 80er-Jahren wurden in vielen Stadien Innenraumzäune und strickte Blocktrennungen errichtet. So glaubte man für Sicherheit auf den Tribünen zu sorgen. Ein Irrtum, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Das Credo der FIFA lautet heute: Beseitigung der Zäune und dafür Verzicht auf Stehplätze: "Wer eingeengt wie in einem Käfig sitzt oder steht, wird eher zu aggressivem Verhalten neigen", begründete bereits Horst R. Schmidt, Vize-Präsident des WM-Organisationskommitees (OK) im Interview mit der Zeitschrift "Stadionwelt" diese Linie.
Wie sicher sind also die Spielstätten? Die Studie der Stiftung Warentest wollte in dieser Frage Klarheit schaffen, hat aber einen Expertenstreit provoziert. Was tatsächlich für Sicherheit im Stadion sorgt, darüber herrscht offenkundig Uneinigkeit. Im Olympiastadion wurden jedenfalls im Mai Notbrücken über den kritisierten Reportergraben installiert. Mit dem Urteil von Stiftung Warentest habe das aber nichts zu tun, sagt Peter von Lübbecke, Geschäftsführer der Olympiastadion Berlin GmbH. Der Einbau der Brücken sei schon vorher geplant gewesen.
Sandra Schmid arbeitet als freie Journalistin in Berlin.