Für Christian Ruck beginnt das heutige Fußballtraining zunächst mit einem Dämpfer: Der CSU-Abgeordnete (51) konnte vor dem Spiel seine Schuhe nicht finden, und das Ersatzpaar ist zwei Nummern zu klein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelt er von der Bank, fluchend, aber nicht willens, sich davon die Laune verderben zu lassen: "Meine Leidenschaft ist größer als mein Schmerz", sagt er tapfer und stürmt auf das Spielfeld.
Heute ist Dienstag, Sitzungswoche im Bundestag, der Tag, an dem sich die rund 30 Mitglieder des "FC Bundestag" immer zum Fußballspielen treffen. Weil der letzte Frost noch in den winterharten Böden sitzt, wird heute drinnen gekickt, in der bundestagseigenen Sporthalle des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses. Hierhin haben sich an diesem Abend aber nur wenige bemüht, genauer gesagt acht Abgeordnete mit kräftigen Waden und kurzen Hosen, die sich nach einem langen Sitzungstag nichts sehnlicher wünschen, als richtig ins Schwitzen zu kommen. "Als Abgeordneter muss man ja unheimlich viel sitzen, in Arbeitsgemeinschaften, Ausschüssen, in Berichterstattergesprächen", erzählt Dirk Manzewski (45, SPD), der seit 1998 schon 68 Tore für das Team geschossen hat. Als er in den Bundestag gewählt wurde, sei der Weg in die Mannschaft daher für ihn nicht weit gewesen: "Ich habe schnell festgestellt, dass ich einen Ausgleich brauche und mich mehr bewegen muss."
Aus gleichem Grund ist auch der CDU-Abgeordnete Klaus Riegert (47) 1992 zum FC gekommen. Er wurde fünf Jahre nach seinem Einstand sogar zum Spielführer der Elf gewählt und ist seither Trainer, Kapitän und Mittelfeldspieler in einem, "sozusagen das Mädchen für alles", wie er schmunzelnd hinzufügt. Angesprochen auf seine nunmehr neunjährige, so manchem Ex-Bundestrainer sicher utopisch anmutende Amtszeit, räumt der Chefcoach ein, dass das "wohl eher undemokratisch" sei: "Es wird eben einmal gewählt und dann bleibt man dabei. Deshalb sage ich ja immer scherzhaft, dass ich wohl der einzige Abgeordnete bin, der nach 1998 seine Position behalten hat." So viel Kontinuität ist selbst in der Politik selten. Auch die beiden Spielführer vor Riegert, Adolf Müller-Emmert (SPD) und Klaus Rose (CSU), trainierten die Mannschaft ungewöhnlich lange, allein Müller-Emmert war fast 20 Jahre Kapitän. Er war 1967 auch der erste, der die Abgeordneten in Bonn über die Rheinwiesen jagte. Die Anfänge dieser überfraktionellen Gründerelf kommentierte er damals trocken mit dem Satz: "Fußball ist die einzige Freude, die wir in Bonn haben."
Ganz so drastisch würde es Klaus Riegert nicht formulieren. Aber auch er, der seit seinem sechsten Lebensjahr Fußball spielt, weiß: "Eine Woche ohne Fußball ist einfach nix." In seinem Büro sieht es daher eher aus wie bei einem DFB-Verbandspräsidenten als bei einem Bundestagsabgeordneten: An den Wänden hängen Plakate mit den Konterfeis der Mannschaft, im Regal stehen Pokale, goldbestickte Wimpel und ein kleiner Plastikfußball. "Ein Geschenk des russischen Kapitäns", wie er betont. Alles Trophäen einer überaus spielfreudigen Elf: Immerhin bestreitet sie - übrigens in den echten Trikots der deutschen Fußball-Nationalelf - rund 15 Spiele im Jahr, darunter das Internationale Parlamentarier-Fußballturnier und zahlreiche Benefizspiele. Im März erst haben die kickenden Volksvertreter zusammen mit anderen Teams aus Wirtschaft, Sport und Medien in Berlin 50.000 Euro für die Agapedia-Stiftung von Jürgen Klinsmann eingespielt.
Selbst Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) streift sich da noch manchmal die Fußballschuhe über: Obwohl er in seinem neuen Amt noch weniger Zeit hat als zuvor, versucht er, so oft er kann bei Turnieren dabei zu sein. Er ist seit schließlich 20 Jahren mit von der Partie und hat in dieser Zeit über 60 Einsätze gespielt. In der Einsatzstatistik ist das gutes Mittelfeld - auf dem Rasen dagegen stürmt Lammert ganz vorne mit: "Er ist der Typ rechter Flügel-Flitzer", sagt Riegert anerkennend, obwohl er sich selbst nicht verstecken muss: Er ist mit über 200 Toren seit 1992 inzwischen der unangefochtene Torschützenkönig der "Bundestags-Liga".
Doch der Spaß am Spiel allein und das Sammeln für wohltätige Zwecke sind nicht der einzige Antrieb für Riegerts Mannen. Für den Mittelfeldspieler erfüllt die Mannschaft noch eine weitere wichtige Funktion - die der "Botschafter des Parlaments": "Wir spielen ja gegen viele gesellschaftliche Gruppen, gegen Firmen, Verbände und Pressemannschaften, aber auch gegen andere Parlamente und Teams aus den Wahlkreisen", so der CDU-Abgeordnete. "Hinterher setzt man sich zusammen und kann mal fragen: Wie läuft es bei Euch? Wie ist die Stimmung? Und die fragen uns natürlich auch: Warum ist das Parlament immer so leer? Die Kommunikation ist einfacher, wenn man vorher zusammen auf dem Platz gekämpft hat."
Gern wird der FC Bundestag deshalb als erfolgreichste Fraktion im Parlament bezeichnet. Schließlich vereint er nicht nur Abgeordnete jeden Alters, genauer gesagt zwischen 30 bis 63, vor dem Strafraum, sondern auch die Abgeordneten aller im Bundestag vertretenen Parteien. Mit nur einer Einschränkung: Die kleineren Fraktionen und Oppositionsvertreter machen sich seit jeher rar. Nur Joschka Fischer und die Grünen-Abgeordnete (!) Grietje Bettin sind vor einiger Zeit noch über den Acker gefegt, dann aber zwangen sie die Termine zurück auf die Bank. "Die kleinen Fraktionen sitzen ja in noch mehr Ausschüssen als wir, weil sie personell gar nicht alles abdecken können", sagt SPD-Mann Manzewski. Für sie sei es also viel schwieriger, regelmäßig zum Training zu kommen.
Ein Grund, warum auf dem Rasen schon seit langem eine Große Koalition regiert - wenn auch "mit einer liberalen Beimengung", wie Uwe Barth (FDP, 41) betont. Er ist in der aktuellen Legislatur so etwas wie der "Quoten-Liberale" der Mannschaft, der einzige Mann der Opposition, aber das ist für ihn kein Problem: "Klar, wird da manchmal ein Witzchen gemacht. Aber letztlich ist es völlig wurscht, zu welcher Fraktion man gehört. Wir sind hier in erster Linie Sportkameraden." Das bestätigt auch Dirk Manzewski: "Politik spielt eine völlig untergeordnete Rolle. Eine richtige inhaltliche Debatte ist eigentlich tabu."
Aber apropos Tabus - wie sieht es eigentlich mit dem sportlichen Niveau der Mannschaft aus, Herr Riegert? Schließlich sind sie alle ziemlich bunt durcheinander gewürfelt, die Spieler des "FC Bundestag". Jeder, der will, kann mitmachen, das Durchschnittalter liegt bei Mitte 40 und zudem bleibt im Sitzungswochenstress kaum Zeit für intensives Training. "Um Gottes Willen", entfährt es Riegert, bevor er die Diplomatie bemüht: "Sagen wir es mal so: Wir sind eher eine gediegene Altherrenmannschaft, mit dem gelegentlichen Hang zu fußballerischen Elementen." Dann beginnt er herzlich zu lachen. Die Antwort amüsiert ihn selber.
Selbstverständlich ist sie kaum mehr als pures Understatement: Fußballer vom Kaliber eines Christian Ruck könnte auch Klinsmann gut gebrauchen. Fast ganze 90 Minuten hat der CSU-Abgeordnete durchgehalten, die viel zu engen Schuhe haben derweil seine Zehen dunkelrot verfärbt. Aber er hat gekämpft. Nun sitzt er mit den Kameraden verschwitzt und barfüßig auf der Bank, und sein seliger Blick bestätigt die immer wieder gern zitierte Fußballregel: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.