Aber so ist es natürlich nicht. Die WM ist nicht irgendein Ereignis, das man einfach professionell organisieren muss und dann fertig. Es haftet Größeres an diesem Turnier, eine gewaltige Hoffnung, die Hoffnung, dass sich durch die WM etwas verändern könnte. Wirtschaftlich, politisch, gefühlsmäßig, mental. Und zwar zum Guten. Die Wahrheit ist eben doch komplizierter.
Zur Wahrheit gehört zum Beispiel, dass Fußball natürlich längst kein beliebiges Ballspiel mehr ist, dass er seinen gesellschaftlichen Stellenwert verändert hat. Er selbst kann dafür natürlich nichts, er ist im Wesentlichen der Alte geblieben. Die Abseitsregel wird zwar alle paar Jahre modifiziert und die Bälle bekommen immer lustigere Namen (der in diesem Jahr heißt "Teamgeist"). Wirklich verändert aber haben sich die Menschen rund um das Spiel.
Sie wollen immer freier, unabhängiger, immer selbstbestimmter sein und viele merken dabei nicht, wie die Zerbröselung sozialer Strukturen einsame Wölfe aus ihnen macht. Sie sind so zufrieden mit ihrer Unabhängigkeit, dass vielen zum Weinen zumute ist.
Früher gab es Ideen und Organisationen, unter deren Dach sich die Menschen versammelten. Es gab die SPD und die Gewerkschaften, die Kirche, die Ostermärsche, die Anti-Atombewegung, Nachbarschaftshilfen oder den Heimatverein. Es roch manchmal etwas muffig, es war nicht wirklich hip, aber man hatte das gute Gefühl, nicht alleine zu sein. Offiziell gibt es all das auch heute noch, aber es hat nicht mehr die Strahlkraft von einst. Es kann eine Gesellschaft nicht mehr zusammenbinden. Es ist uncool geworden und vermutlich auch zu anstrengend.
So ist zugleich wenig verblieben, was einer Gesellschaft wie der deutschen das Gefühl vermitteln kann, dass sie doch irgendwie zusammengehört. Es fehlt das Gemeinschaftserlebnis. So kann in einer Welt, der die sinnstiftenden Elemente abhanden kommen, etwas weitgehend Sinnfreies wie ein Ballspiel rasch den Status von Religion einnehmen.
Bei Bundesligaspielen sind die Stadien heute voller als je zuvor. Dabei gäbe es genug objektive Gründe, der Veranstaltung den Rücken zu kehren, denn die Eintrittspreise haben sich im umgekehrten Verhältnis zum Niveau entwickelt. Sie sind explodiert, während die Bundesliga ins europäische Mittelmaß abgestiegen ist.
Statt Talenten aus der Region müssen die Fans nun Spielern zujubeln, die die Globalisierung aus allen Teilen der Welt in die Liga gespült hat, und die ihre Vereine wechseln wie Montagearbeiter die Baustelle. Doch obwohl das moderne Fußballgeschäft den Anhängern die letzten Chancen raubt, sich identifizieren zu können, steigt das Bedürfnis nach Fußball scheinbar unaufhaltsam.
Längst ist der Fußball an die Stelle vieler sozialer Einrichtungen getreten. Er ist einer der letzten Kleber für eine auseinander fallende Gesellschaft, der letzte gemeinsame Nenner von Hartz-IV-Empfängern, Investmentbankern und Intellektuellen, vor allem während einer Weltmeisterschaft. Er lässt die Grenzen sozialer Herkunft für die Dauer eines Turniers verschwinden, er sorgt für zeitlich befristeten Zusammenhalt. Während Klinsmanns Mannschaft spielt, sind wir alle zusammen noch einmal Deutschland, ehe wir uns unserer Gegensätze wieder bewusst werden.
In die Rolle des großen Integrators konnte der Fußball freilich erst schlüpfen, als er auch in den bisherigen Problemgruppen gesellschaftsfähig wurde: bei den Intellektuellen und den Frauen. Inzwischen aber hat der Fußball seinen Ruf als männlicher Proletensport abgelegt. Unter linken Künstlern ist es derzeit angesagter, sich mit der Dialektik der Abseitsfalle zu schmücken als mit Horkheimer und Adorno. Und auch viele Frauen mussten inzwischen einsehen, dass es nicht mehr chic ist, sich im Fußball nicht auszukennen. Selbst in die Sprache ist das Leder längst vorgedrungen. Kaum ein Politiker kommt mehr ohne Fußballmetaphorik aus, will er die Situation seiner Partei im Konkurrenzkampf mit den anderen anschaulich machen. Es gibt kein Entrinnen, die Euphorie für das Spiel ist zum Zeitgeistphänomen geworden.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die WM in einem heiklen Moment über die Deutschen kommt, sie platzt mitten in eine Identitätskrise. Wo einst der Wohlstand wucherte und der Kündigungsschutz so sicher schien wie das Amen in der Kirche, wuchern nun die Neurosen. Sie handeln von Abstiegsängsten und Minderwertigkeitskomplexen und sie haben Einfluss auf unsere Erwartungshaltung an die WM.
Wenn jemand, der sich in der Krise wähnt, eine tolle Chance bekommt, dann verhält er sich anders als der Erfolgsverwöhnte. Der Mann in der Krise verhält sich gewissenhafter, aber er verkrampft auch, weil er fürchtet, die Chance könnte seine letzte sein. Er will alles richtig machen und läuft Gefahr, die Chance zu verspielen. So ähnlich verhält es sich mit Deutschland und der WM. Sie darf nicht einfach Turnier werden, sie muss mehr werden, weil so viele Erwartungen an ihr hängen. Die Wirtschaft erhofft sich einen Investitionsboom, die Regierung hofft auf bessere Stimmung und höhere Umfragewerte, die Fans hoffen auf Deutschlands Rückkehr in die fußballerische Weltspitze. Es ist verdammt viel, was dieses Turnier leisten soll.
Es ist kein Zufall, dass dieser Tage so gern an das Wunder von Bern erinnert wird, als die deutsche Elf 1954 mit ihrem Sieg über Ungarn der heruntergekommenen Nation ein neues Selbstwertgefühl verlieh. Keinem sportlichen Ereignis wurde in Deutschland so viel Bedeutung beigemessen, keines wurde so überhöht, so verklärt. Heute, da die Kanzlerin die zweiten Gründerjahre der Republik herbeireden will, hofft man als Deutscher insgeheim auf ein zweites Wunder. Aber vielleicht ist das gar nicht gesund. Vielleicht sollten wir Deutschen alle ein bisschen Oliver Kahn sein in diesem So mer. Wir sollten uns wie der Ersatztorwart entspannt auf die Bank setzen und glücklich sein, dabei zu sein.
Gute Feste beginnen mit der Einstellung der Gastgeber. Wir sollten die WM daher so gelassen wie möglich sehen, nicht zittern, ob all die Erwartungen, die über das Fest hinausreichen, auch wirklich in Erfüllung gehen. Man kann Wunder und die Erfüllung von Hoffnungen nicht planen. Man kann sich aber problemlos freuen: auf die Menschen, die mit bunten Trikots und lustigen Sprachen auf unseren Bahnhöfen und Marktplätzen stehen werden und uns ein Teil ihrer Lebensfreude schenken, selbst wenn sie aus Holland kommen. Auf ein paar Wochen, die an Urlaub erinnern werden, Wochen, in denen der Elfmeterpfiff vom Vorabend wichtiger ist als die Besprechung am Vormittag.
Auf kleine Zaubermomente auf dem Rasen, auf die Tore von Ronaldinho und Deco, von van Nistelrooy und Raúl und vielleicht sogar von Klose. Vielleicht wird die Welt am Ende tatsächlich den Eindruck mit nach Hause nehmen, zu Gast bei Freunden gewesen zu sein und uns am Ende ein wenig netter finden als bisher, moderner, sogar innovativer. Vielleicht erfüllen sich die anderen Hoffnungen dann ganz von alleine.
Markus Feldenkirchen arbeitet als Redakteur für den "Spiegel".