In der berühmten Jugendstil-Brasserie Fallstaff, gleich neben der Brüsseler Börse, hält Belgiens Nationaldichter Geert van Istendael Märchenstunde. "Er was eens een man ..." - Es war einmal ein Mann, ... beginnt seine Geschichte, die er als Auftragsarbeit zum 9. Mai, dem Geburtstag des EU-Vordenkers Robert Schuman, geschrieben hat. Es war die Idee der österreichischen Ratspräsidentschaft, an diesem Tag die Caféhäuser zu Orten des öffentlichen Nachdenkens über Europa zu machen. In Prag las Vaclav Havel, in London Timothy Garton Ash, in Berlin Eva Demski. "Denn", so Österreichs EU-Botschafter Gregor Woschnagg, "Demokratie wäre gar nicht denkbar ohne den Raum für politische Debatten, den das Caféhaus bietet."
Van Istendael liest auf niederländisch, ohne Übersetzung - angeblich, weil er erst tags zuvor mit dem Text fertig geworden ist. Vielleicht gehört dieses flämische Sprachbad aber auch zum Programm. Seine Geschichte erzählt vom Mitarbeiter eines multinationalen Konzerns, der beruflich viel herumkommt und eines Tages im sterilen Brüsseler Europaviertel ein paar Treffen hat. So weit, so alltäglich. Das Märchen fängt an, als der Aktentaschenträger seine akustische Umgebung wahrzunehmen beginnt. Das Sprachengemisch bezaubert ihn so sehr, dass er seine wichtigen Termine vergisst und in die nächstbeste Metro steigt, um mehr davon zu hören.
Vielleicht hätten die 140 Parlamentarier, die zur gleichen Zeit im Europaparlament über die Zukunft der Union debattierten, auf der Märchenreise mit dem Dichter neue Einsichten gewinnen können. Stattdessen brüteten sie in vier Arbeitsgruppen über den altbekannten Fragen: Wo endet Europa? Was bedeutet die Globalisierung für das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell? Wie kann die Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung verbessert werden? Wie soll sich die Union künftig finanzieren?
Die grüne EU-Abgeordnete Helga Trüpel, die in der Finanzarbeitsgruppe saß, sagt hinterher seufzend: "Es war ja schon wichtig, dass wir uns überhaupt getroffen haben. Gerade in der jetzigen Situation, wo man das Gefühl hat, dass die Nationalstaaten eher feindlich gegen die EU agieren." Einig seien sich die Teilnehmer eigentlich nur darin gewesen, dass die EU-Finanzierung in ihrer jetzigen Form sich überlebt habe. Alle Ausgaben müssten daraufhin geprüft werden, ob eine Umverteilung über Brüssel politischen Mehrwert bringe. Forschungspolitik und Energiepolitik seien die Felder, auf denen sich die Teilnehmer am ehesten eine Koordination auf europäischer Ebene vorstellen können.
Die dänische Folketinget-Abgeordnete Charlotte Antonsen hatte mit Kollegen aus anderen Ländern und EU-Politikern über Außenpolitik, Erweiterung und die Grenzen der EU diskutiert. "Nach diesem Treffen glaube ich, die Verfassung ist nicht so tot, wie sie zu sein schien", zieht sie Bilanz. "Es gab breite Übereinstimmung, dass gerade für die EU-Außenpolitik diese Vertragsreform dringend gebraucht wird." Leider hät-ten sich die niederländischen und französischen Abgeordneten nur sehr allgemein zum Thema geäußert. "Ich erwarte ja nicht, dass sie einen kompletten Fahrplan in der Tasche haben. Aber ein paar Vorschläge hätte ich schon gern gehört. Wir anderen möchten nämlich allmählich mal die Verfassung ratifizieren."
Wie klein der gemeinsame Nenner in den Parlamenten derzeit ist, hat auch die Vizepräsidentin der EU-Kommission Margot Wallström bei ihren Reisen durch Europas Hauptstädte erfahren müssen. Als sie vergangene Woche gemeinsam mit Kommissionschef José Manuel Barroso ein "Grundsatzprogramm" vorstellte, das die EU aus ihrer derzeitigen Krise führen soll, gab sie ein anschauliches Beispiel dafür: Die Finnen könnten die Europäische Union deshalb nicht leiden, weil Brüsseler Artenschutzgesetze die Wolfsjagd verbieten.
Wohin also führt das von Wallström seit Monaten wiederholte Credo, man müsse den Menschen besser zuhören und ihren Erwartungen an die EU besser gerecht werden? Während in EU-weiten Umfragen der Union beim Umweltschutz und bei nachhaltiger Entwicklung eine hohe Kompetenz zugestanden wird, würden die Finnen am liebsten den Schutz bedrohter Arten außer Kraft setzen. Das gleiche Dilemma zeigt sich bei einem anderen, im Grundsatzprogramm als vorrangig herausgehobenem Thema: der Verbrechensbekämpfung. Laut Umfragen erwarten die Bürger von der EU, dass sie für Sicherheit sorgt und den Kampf gegen Terror zur Gemeinschaftsaufgabe macht. Doch die Mitgliedstaaten wollen keine Kompetenzen abgeben, der Datenaustausch läuft schleppend, das EU-Parlament hat keine Kontrollrechte. "Eine Verlagerung der Kompetenzen auf die Ebene der EU wäre der falsche Weg", erklärt Matthias Wissmann, Vorsitzender des Europaausschusses des Deutschen Bundestags. "Sollen wir auf den nächsten Terroranschlag warten, bevor wir tätig werden?", fragt dagegen sichtlich aufgebracht der Kommissionspräsident.
Die Ankündigung im Grundsatzprogramm, Gesetzesvorhaben künftig von den nationalen Parlamenten daraufhin prüfen zu lassen, ob sie in nationale Zuständigkeiten eingreifen, bringt dagegen einige EU-Abgeordnete auf die Palme. Der Verfassungsausschuss erklärte vergangene Woche, laut geltendem Nizza-Vertrag hätte nur das EU-Parlament das Recht, die Kommission zu kontrollieren. Das grüne Ausschussmitglied Gerard Onesta bezeichnete gar das Gremium COSAC, in dem die nationalen Parlamente zusammengeschlossen sind, als "Trojanisches Pferd, das unser ganzes Gemeinschaftssystem untergräbt." Dagegen wetterte Kommissionspräsident Barroso: "Ich brauche niemandes Erlaubnis, um unsere Entwürfe an die nationalen Parlamente zu schicken! In der Konsultationsphase stellen wir sie ohnehin ins Internet. Es ist nicht einzusehen, dass jede Bürgerinitiative sich dann äußern darf, die demokratisch gewählten Volksvertreter aber nicht!"
Im Dezember wollen sich Vertreter der nationalen Parlamente und EU-Abgeordnete zu einem weiteren Forum in Brüssel treffen. Um nicht in eurokratischen Details stecken zu bleiben, sollten sich die Besucher Zeit für einen Ausflug in die bunte europäische Unterwelt des Dichters Geert van Istendael nehmen. Dessen Held lässt sich nämlich von einer schönen Frau aus Westflandern dorthin entführen, wo die Eurokraten und Lobbyisten normalerweise nicht hinkommen: in die Marollen, Brüssels Kleine-Leute-Viertel. In der "Société des Batards" - der "Geheimgesellschaft der Bastarde" erwartet ihn eine Szene von Breughelscher Opulenz: Fünf Männer und fünf Frauen feiern bei Wurst, Käse, Wein, Oliven und Belgischem Bier. Sie stammen aus aller Herren Länder, sprechen flämisch, bruxellois oder französisch. Dieses babylonische Europa der Flüchtlinge und Wanderer zwischen kulturellen Welten liebt Geert van Istendael. Die Hauptstadt ist Brüssel, ganz klar, das Herz aber schlägt nicht am Rond Point Schuman zwischen Ratsgebäude und EU-Kommission, sondern hier in den Marollen.