Schnell gab es Mitschüler, die mitsammelten, und nur wenig später lud das Gymnasium in der kleinen Stadt in Brandenburg zu einem Fest. 75 Prozent der Schüler und 85 Prozent des Personals vom Lehrer bis zum Hausmeister hatten unterzeichnet, sich dafür einsetzen zu wollen, dass ihre Umgebung frei - oder zumindest freier - von Intoleranz und Rassismus wird. Zur Anerkennung bekam die Schule ein Schild überreicht, auf dem "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" steht. Und sie überzeugte einen prominenten Paten, dem die Schüler bis heute regelmäßig Bericht erstatten: Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums in Berlin.
Damals, im Frühjahr 2002, waren die Runge-Schüler mit ihrer Initiative noch eher eine Ausnahme. Heute gibt es in Brandenburg 18 "Schulen ohne Rassismus - Schulen mit Courage". Bundesweit tragen 278 Schulen das Prädikat, das von der gleichnamigen Bundeskoordination in Berlin verliehen wird. Um es zu bekommen, muss es erstens eine Gruppe geben, die das Projekt in die Hand nimmt. Ihr muss es zweitens gelingen, 70 Prozent aller an der Schule Beteiligten - Schüler, Lehrer, Hausmeister - dafür zu gewinnen, sich langfristig gegen Gewalt, Diskriminierung und Rassismus einzusetzen und das per Unterzeichnung zu bekräftigen. Das klingt einfach, ist es aber meist nicht. "Wir haben zwei Jahre diskutiert, ob wir dem Anspruch eigentlich gerecht werden können - und wenn ja, wie wir das tun", erzählt Frauke Schmidt, Lehrerin am Puschkin-Gymnasium im brandenburgischen Hennigsdorf, das vor wenigen Wochen die Unterschriftenliste eingereicht hat und nun auf der Suche nach einem prominenten Paten ist.
Wie der Titel "Schule ohne Rassismus" mit Leben gefüllt wird, ist ganz verschieden. Das Runge-Gymnasium macht seit Jahren gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus mobil. Die Schüler gründeten eine "AG gegen Rechts", die sich an Gedenkveranstaltungen für Opfer nationalsozialistischer und rechter Gewalt und an Demonstrationen gegen NPD-Aufmärsche beteiligt. In Projektwochen und Praktika sind Runge-Schüler außerdem regelmäßige Gäste in der nahe gelegenen Gedenkstätte Sachsenhausen: Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers, wo zwischen 1936 und 1945 200.000 Menschen inhaftiert waren und mehrere zehntausend getötet wurden oder an Hunger starben, arbeiten Schüler an der Aufarbeitung der Geschichte und besuchen Überlebende oder Angehörige von Verstorbenen. "Der Nationalsozialismus ist ein wichtiges Thema für uns", sagt die Schülerin Madleen Knauth. "Als ich gesehen habe, dass einige Schüler in Sachsenhausen Hakenkreuze an die Wände schmieren, habe ich gedacht: So nicht!"
Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus der Gegenwart ist an vielen Schulen Thema: "Nachdem wir ,Schule ohne Rassismus' wurden, standen Neonazis vor dem Schultor und wollten bei uns ihre Flyer verteilen", erzählt Marie-Luise Meja vom Gymnasium Bernau in Brandenburg. Im niedersächsischen Verden wehren Schüler sich nicht nur gegen die Verteilung von Neonazi-CDs und Flyern auf dem Schulhof, sondern auch dagegen, dass der bundesweit bekannte Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger in unmittelbarer Nähe ein rechtes Schulungszentrum errichtet. Das bayerische Wunsiedel, wo jeden August mehrere tausend Neonazis zum Todestag des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß aufmarschieren, ist die erste Kommune, in der sich zurzeit alle Schulen um das Zustandekommen der Unterschriftenlisten bemühen. Und, apropos Kommune: In Bremen ist es Schülern und Schülerinnen auch schon gelungen, das Prinzip auf die Bürgerschaft zu übertragen: 70 Prozent der Abgeordneten haben eine von den Schülern entwickelte Antidiskriminierungs-Richtlinie unterzeichnet und dafür den Titel "Parlament ohne Rassismus" verliehen bekommen.
Nun sind das alles Vorzeigefälle. Es gibt auch Schüler, die nach Erhalt des schwarzweißen Schildes wieder die Hände in den Schoß legen. "Wieso, wir haben doch das Schild schon", konstatiert eine Schülerin in Falkenberg/Brandenburg, auf die Frage, was die Schüler denn nun tun werden. Und selbst das so engagierte Runge-Gymnasium verzeichnet derzeit einen Einbruch der Aktivitäten. Die "AG gegen Rechts" ist von 22 auf vier Mitglieder geschrumpft und sucht Hände ringend Nachwuchs. "Rechtsextremismus hat gerade keine Konjunktur", sagt Madleen Knauth, "wenn nicht in Oranienburg selber etwas passiert, ist es schwer, Leute zu motivieren."
Dass Schüler und Lehrer sich nach Erhalt des Titels beruhigt zurücklehnen, ist so nicht gedacht. "Schule ohne Rassismus" ist nicht nur Name, sondern Auftrag. Und auch wenn die 278 Schulen nicht wöchentlich überprüft werden, bleibt die Berliner Zentrale nicht untätig, wenn es Anlass zur Sorge gibt. Jüngst war ein solcher ausgerechnet die ZDF-Dokumentation "S.O.S. Schule". Am Beispiel der Berliner Pommern-Schule wollten die Autorinnen demonstrieren, dass positive Veränderungen auch an einer Hauptschule möglich sind und brachten zu diesem Zweck gleich zwei Sozialarbeiter mit. Als dort vor laufender Kamera beschlossen wurde, einen homosexuellen Schüler umzuschulen, weil seine Sicherheit nicht gewährleistet werden könne, klingelte in dem Büro der Bundeskoordination erst das Telefon und dann alle Alarmglocken. Die Pommern-Schule ist "Schule ohne Rassismus". "Sie hat sich verpflichtet, zu integrieren und nicht auszugrenzen!", empört sich die Projektleiterin Sanem Kleff. Ein Gespräch mit der Schulleitung steht aus.
Entwickelt wurde das Konzept Ende der 80er-Jahre im Nachbarland Belgien. Seit 1995 existiert "Schule ohne Rassismus" in Deutschland. Finanziert wird die mehrfach preisgekrönte Initiative - die zuletzt im Jahr 2004 vom Bündnis für Demokratie und Toleranz als "Botschafter der Toleranz" ausgezeichnet wurde - aus Mitteln der Bundesprogramme "Xenos" und "Entimon". Noch. Ende des Jahres soll damit Schluss sein. Begründung: Die Modellversuchsphase sei zu Ende; "Schule ohne Rassismus" solle sich andere Finanziers suchen. Von staatlicher Seite dürfte das nach der Föderalismusreform noch schwieriger werden als bisher: Wer wird ein bundesweites Schulprojekt fördern, wenn Schule nur noch und ausschließlich Ländersache ist?
www.schule-ohne-rassismus.org