November 2002, in der Provinz Byumba im Norden Ruandas, unweit der Grenze zu Uganda. Auf dem Ausläufer eines Hügels liegt das Gefängnis von Myowe. Der erste Eindruck ist fast enttäuschend. Das Gefängnis entspricht so gar nicht dem Klischee von einem afrikanischen Gefängnis, das, überfüllt, feucht und dunkel, mit unzureichenden hygienischen Installationen, jedem internationalen Mindeststandard Hohn spricht. Die fünf, aus Backstein-Ziegeln gemauerten Gebäude des Gefängnisses von Myowe erinnern eher an eine weitaus weniger repressiv wirkende Anlage, und in der Tat stellt sich später heraus, dass das Gefängnis erst 1997 eingerichtet wurde, indem mehrere nah beieinander liegende Schulgebäude so umfunktioniert wurden, dass darin Häftlinge festgehalten werden können.
Nach dem Völkermord, der 1994 in Ruanda stattfand, bestand ein großer Bedarf an Haftraum. Zwei Jahre später war bereits die Zahl von 100000 Häftlingen überschritten, und die Tendenz war weiter steigend. Es musste also schnell Abhilfe geschaffen werden; dazu dient unter anderem das Gefängnis von Myowe.
In der Mitte des Gefängnisareals, zwischen Küche und Latrine, steht ein etwas größeres Gebäude, das als Lagerraum benutzt wird. Darin sitzen, auf Bänken oder auf dem Betonboden, rund 250 Gefangene, Männer und Frauen getrennt. Sie warten auf den Beginn eines Films, der, mit einem Projektor auf ein Bettlaken am Kopfende der Halle projiziert, von den Versuchen berichten wird, die Täter des Völkermords zur Verantwortung zu ziehen.
Zu sehen ist aber zunächst eine Bildersequenz mit verschiedenen Aufnahmen vom Völkermord. Machetenschwingende Männer auf dem Weg zu einem Mordeinsatz; Straßensperren, an denen einzelne Personen aus einer Gruppe von Menschen herausgegriffen und getötet werden; ein fußballfeldgroßer Platz übersät mit Leichen; Männer, Frauen und Kinder, grässlich verstümmelt in der Sonne liegend, deren Licht das Rot des Blutes zur dominierenden Farbe macht.
Durch das Publikum geht ein Aufstöhnen, einzelne Rufe der Entrüstung sind zu hören, Blicke werden gesenkt und Augen mit den Händen verdeckt. Aus dem off ertönt die Stimme eines Kommentators. Die Verbrechen des Völkermords, erklärt sie, würden vor nationalen und internationalen Gerichten verhandelt. Das sei wichtig, denn ohne eine Bestrafung der Schuldigen könne kein neues, friedliches Ruanda entstehen. Alle müssten dazu einen Beitrag leisten, vor allem jedoch diejenigen, die in der Vergangenheit das Land und viele der dort lebenden Menschen in tiefes Unglück gestürzt hätten. Und zur Verdeutlichung der Art des gewünschten Beitrags zeigt der Film nun einen kurzen Ausschnitt aus einer Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof im tansanischen Arusha.
In einem Saal des Gerichts, das seit Ende 1994 mit der Verfolgung der Haupttäter des Völkermords beauftragt ist, sitzt ein Mann auf der Anklagebank und spricht mit den Richtern. Er habe, ist von ihm zu hören, häufig dazu aufgerufen, "Kakerlaken", das heißt Tutsi und ihre angeblichen Hutu-Verbündeten, totzuschlagen. "Sich an die Arbeit machen" oder "das Feld von Unkraut säubern" habe er die von seinen Zuhörern geforderten Handlungen genannt. Warum er nach seiner Festnahme jahrelang seine Unschuld beteuert, sich aber schließlich entschlossen habe, ein umfassendes Geständnis abzulegen, könne er nur so beantworten, dass er lange gebraucht habe, um sich über die Tragweite seines Verhaltens klar zu werden. "Ich habe erkannt", so der Angeklagte an das Gericht und mittels Kamera auch direkt an die Zuschauer im Gefängnis gerichtet, "dass es eine direkte Verbindung zwischen dem, was ich gesagt habe, und dem Tod vieler Menschen gab. Ich sah es daher als meine moralische Pflicht an, mich schuldig zu bekennen."
Es folgen noch eine ganze Reihe weiterer Geständnisse, von denen die meisten allerdings vor ruandischen Gerichten abgelegt werden. Nicht um die Planung des Völkermords oder um die Aufstachelung zu völkermörderischen Handlungen geht es darin, sondern um Mord, Verstümmelung und Plünderung; um Taten also, wie sie in ihrer brutalen Direktheit auch den Häftlingen in Myowe vorgeworfen werden. Stille macht sich dann im Lagerraum breit. Gebannt folgen alle den stockend und mit leiser Stimme gesprochenen Sätzen der geständigen Täter. Immer wieder hören sie: "Ja, ich bereue, was ich getan habe. Ich bin kein schlechter Mensch und ich hoffe, dass die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer mir verzeihen können."
Es gibt viele Arten, mit der Vergangenheit umzugehen. Das ergibt sich schon aus dem einfachen Umstand, dass die Vergangenheit sich in jedem Land anders darstellt. In einem Land herrschte ein diktatorisches Regime, das die Menschen zu einer von Willkür und Terror geprägten Existenz zwang. In einem anderen führte die Staatsmacht einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung oder Teile derselben. In einem dritten Land schließlich machte die Aggression nicht bei der eigenen Bevölkerung halt, sondern richtete sich noch gegen Nachbarstaaten, wodurch sich die Zahl derer, die nach der Wiederherstellung des Friedens auf Gerechtigkeit hoffen, erhöht. Von Bedeutung ist weiterhin, in welcher Weise der Krieg, Bürgerkrieg oder die Diktatur beendet wurden. Geschah dies durch die betroffenen Bevölkerungen selbst oder war eine Intervention seitens Dritter erforderlich? Und die nächste, die entscheidende Frage, mit deren Beantwortung die Weichen für die Zukunft gestellt werden: In welcher Form vollzieht sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Sind es nationale oder internationale Gerichte, die sich damit befassen? Werden alternativ oder ergänzend dazu Wahrheitskommissionen eingesetzt? Wird eine Amnestierung der Täter erwogen? Oder wird eine ganz andere Lösung gewählt, nämlich keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu führen, sie also zu beschweigen oder zu verdrängen?
Schon jetzt wird deutlich, wie komplex der Begriff der Vergangenheitspolitik ist, der sich für die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit einer gewaltvollen, blutigen Vergangenheit eingebürgert hat. 1 Und es könnten weitere Differenzierungen vorgenommen werden, beispielsweise im Hinblick auf den Kulturkreis, dem das fragliche Land angehört, oder hinsichtlich der rechtsstaatlichen Erfahrungen, über die es verfügt. Doch soll an dieser Stelle zunächst eines festgehalten werden: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist heute beim Übergang in eine andere - und das heißt in der Regel: demokratische - Staatsform auch und vor allem eine rechtliche und moralische Angelegenheit. Ein politischer Neuanfang in einem Land wäre keiner, wenn er lediglich unter anderen Vorzeichen dort anschlösse, wo das alte Regime aufgehört hat. Gewiss, es gibt das Gegenbeispiel des postfranquistischen Spanien, das den Übergang von einem 1936 beginnenden dreijährigen Bürgerkrieg und der anschließenden jahrzehntelangen Diktatur General Francos zur Demokratie ohne eine kritische Beschäftigung mit seiner Vergangenheit vollzogen hat. Doch Franco starb 1975, zu einer Zeit, in der lange zurückliegende Massenverbrechen oder massive und schwere Menschenrechtsverletzungen in der öffentlichen Aufmerksamkeit noch weit hinter den vermeintlichen Sachzwängen der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West rangierten.
Denken wir uns zum Vergleich nur den Fall, dass die neue ruandische Regierung nach Bürgerkrieg und Völkermord erklärt hätte, aus welchen Gründen auch immer einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen zu wollen und daher keine Strafverfahren gegen verdächtige Täter durchzuführen oder anderweitige Maßnahmen zur Aufklärung vergangener Verbrechen zu ergreifen. Das Unverständnis und wohl auch die Empörung wären weltweit groß gewesen, zumal der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Etablierung des Internationalen Gerichtshofs in Arusha bereits deutlich gemacht hatte, dass die Staatengemeinschaft nicht stillschweigend zur Tagesordnung überzugehen gedachte.
Es gibt also eine Veränderung in der Wahrnehmung von Staatenunrecht, und sie hat sehr viel mit der Auflösung der genannten Systemkonkurrenz zu tun, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts einsetzte. Um noch zwei Beispiele zu nennen: Der Druck einer Öffentlichkeit, die dem Morden im zerfallenden Jugoslawien nicht mehr hilflos zusehen wollte, war 1993 der entscheidende Faktor für die Einrichtung eines internationalen Gerichts, dessen Aufgabe die Ahndung von dort begangenen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder von Völkermord sein sollte. Ganz ähnlich verhielt es sich ein Jahr später in Kambodscha, als die lange Zeit als illusorisch belächelte Forderung wieder laut wurde nach einer Bestrafung der Mitglieder des Pol-Pot-Regimes, die für den Tod von mehr als 1,5 Millionen Kambodschanern verantwortlich waren. Ein Gesetz, der Cambodian Genocide Justice Act, wurde verabschiedet und setzte eine Entwicklung in Gang, die nunmehr garantiert, dass die Prozesse stattfinden werden. Es war ein langer, schwieriger Weg bis dahin, das ist wahr. Viele Politiker des Landes verspürten ob ihrer früheren Nähe zum alten Regime wenig Neigung, ihn zu beschreiten. Dass es ihn überhaupt gab und er letztlich zum Ziel führte, ist in erster Linie der Bevölkerung des Landes zu verdanken, die, obschon größtenteils nach den Schreckensjahren geboren, die Erinnerung an die Opfer und die straflos gebliebenen Täter nicht losließ.
Etwas Vergleichbares ist derzeit im Übrigen auch in Spanien zu beobachten. Der informelle pacto de olvido, der Pakt des Vergessens, hält nicht länger. Mehr und mehr Menschen verlangen Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen, von denen sich im Bürgerkrieg oder in den Jahren der Franco-Diktatur jede Spur verloren hat. 2 Ob dies jedoch schon die verbreitete Annahme beglaubigt, jede Politik des Beschweigens der Vergangenheit müsse scheitern, sie sei daher ein per se ungeeignetes Modell, kann hier noch dahingestellt bleiben. Das, was derzeit in Spanien geschieht, ist einmal mehr ein Beleg dafür, dass sich die Sicht auf die Vergangenheit nicht verordnen lässt, und sei es auch nur als Ergebnis einer ursprünglich stillschweigenden gesellschaftlichen Übereinkunft. Dazu ist das Bewusstsein darüber, was Menschen angetan werden darf und was nicht, mittlerweile zu ausgeprägt.
Fragen wir nach den Gründen dafür, warum heute zunehmend, um mit Immanuel Kant zu sprechen, "die Rechtsverletzung an einem Ende der Welt an allen gefühlt wird", 3 müssen wir uns von Ruanda, Kambodscha und Spanien nach Deutschland versetzen. Dort nämlich nahm, und zwar ausgehend von deutscher Haupt- beziehungsweise Alleinverantwortung, die Entwicklung ihren Anfang, die später zum wichtigsten Bestandteil von Vergangenheitspolitik werden sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg sollten diejenigen, die Kriegsverbrechen unmittelbar begangen oder deren Begehung befohlen hatten - nach Auffassung der alliierten Siegermächte waren das hauptsächlich deutsche Soldaten und Politiker, einschließlich des früheren Kaisers Wilhelm II. -, vor Gericht gestellt werden. Das Vorhaben scheiterte aus einer ganzen Reihe von Gründen, obschon erstmals in einem größeren Rahmen - bedingt durch die Publizität der alliierten Beschuldigungen und durch die Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht - das Augenmerk einer größeren internationalen Öffentlichkeit auf die rechtlichen Grenzen von Kriegshandlungen und auf die Regeln zum Schutz der unbeteiligten Zivilbevölkerung gelenkt wurde. 4
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich deutsche Einwände angesichts der Dimension der Verbrechen von selbst verbaten, setzten die Alliierten dann in der Tat einen internationalen Gerichtshof ein; die Nürnberger Prozesse begannen. Überlegungen, die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen einfach zu erschießen und sich ohne weitere justizielle Ahndung an den Wiederaufbau Deutschlands zu machen, waren verworfen worden. Sie umzusetzen hätte bedeutet, "die Methoden der Nazis nachzuahmen", wie Thomas Mann im Mai 1945 in Vorwegnahme der alliierten Begründung schrieb. 5
Dass Kriegsverbrechen vom Gegner bestraft werden konnten, war unbestritten. Neu und geradezu revolutionär war hingegen, dass auch Verbrechen, die von den Organen des deutschen Staates an der eigenen Bevölkerung sowie an den Bevölkerungen in den besetzten Gebieten begangen worden waren, bestraft werden konnten. 1919 war die Bestrafung der Drahtzieher des Völkermords an den Armeniern aus Respekt vor der staatlichen Souveränität noch abgelehnt worden, was Hitlers spätere Bemerkung "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" ermöglichte. Jetzt aber sollten solche "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor Gericht verhandelt werden können. Der Hauptbedeutung des englischen crimes against humanity entsprechend, wäre die Bezeichnung "Verbrechen gegen die Menschheit" angemessener gewesen. Denn die hier in Rede stehenden Verbrechen zielen auf die Beeinträchtigung oder Zerstörung der menschlichen Würde und Selbstbestimmung ab, das heißt auf das, was den Menschen als Menschen ausmacht und was somit, eine massive und systematische Begehungsweise vorausgesetzt, das zivilisatorische Fundament der Menschheit angreift. Kurzum, die Bezeichnung "Verbrechen gegen die Menschheit" hätte genau das sprachlich besser zum Ausdruck gebracht, was Kant mit seiner Wunschvorstellung, dass die Rechtsverletzung an anderen als an ihrem Begehungsort gefühlt wird, im Sinn gehabt hatte.
Man mag diese begriffliche Unschärfe zu Recht beklagen. Allerdings verliert die Klage schnell an Bedeutung, wenn man sich vor Augen hält, dass mit der strafrechtlichen Ahndung dieser Verbrechen der staatlichen Willkür eine rechtliche Grenze gezogen wurde, über die sich niemand, auch nicht die politische oder militärische Führung eines Landes, ungestraft hinwegsetzen darf.
Natürlich liegt der Einwand nahe, dass es mit der vom Nürnberger Chefankläger Robert H. Jackson metaphorisch geäußerten Ankündigung, der den Angeklagten gereichte vergiftete Becher müsse auch an die eigenen Lippen gesetzt werden, nicht weit her gewesen sei. Schlimmste Menschenrechtsverbrechen, man denke nur an Biafra 6 oder den Vietnamkrieg, seien im Staatsauftrag oder unter Zuhilfenahme staatlichen Gewaltpotenzials begangen worden, ohne dass sich die Täter, von einigen, mehr zufälligen Ausnahmen abgesehen, vor Gericht hätten verantworten müssen. So richtig dieser Einwand ist, sofern er auf herkömmliche Gerichtsverfahren abstellt, so falsch ist er, wenn er die völlige Wirkungslosigkeit der Nürnberger Verfahren in den folgenden Jahrzehnten unterstellt. Sogenannte "Meinungstribunale" (Tribunals of Opinion) fanden statt, auf denen das Geschehene am Nürnberger Maßstab bewertet wurde, und auch in der kritischen öffentlichen Diskussion war dieses Recht als Vergleichskriterium präsent.
Ebenso wichtig ist aber, dass Nürnberg den Anstoß gab für zahlreiche Kodifikationsarbeiten, insbesondere auf dem Gebiet der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, des Rechts, das sich mit dem Schutz der Menschen im Krieg beschäftigt. Zu nennen wären beispielsweise die Konvention gegen Völkermord von 1948, die ein Jahr darauf abgeschlossenen Genfer Konventionen, die beiden Pakte aus dem Jahr 1966, in denen die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 konkretisiert und in eine rechtlich verbindliche Form gegossen wurden, sowie das Internationale Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung und dasjenige gegen Folter und andere grausame, erniedrigende oder unmenschliche Behandlung oder Strafe, die 1966 respektive 1984 zustande kamen. Sie alle enthalten über die nur die Vertragsstaaten betreffenden Regelungen hinaus auch Vorschriften mit gewohnheitsrechtlicher Kraft und sogar zwingendes, von allen Staaten unter allen Umständen zu beachtendes Völkerrecht. Damit entfalten sie ihre Wirkung nicht nur im Verhältnis der Staaten zueinander, sondern auch und ganz besonders im Verhältnis der Staaten zu ihren jeweiligen Bevölkerungen. Oder, um es noch klarer zu sagen: Der einzelne Mensch, der früher lediglich als Objekt völkerrechtlicher Verträge erschien, ist in das Zentrum des Völkerrechts gerückt, das ihn über die staatlichen Grenzen hinweg mit Rechten ausstattet. In einer Zeit, in der die Hinnahme schwerer, zu Friedens- oder Kriegszeiten begangener Menschenrechtsverletzungen nicht länger mit weltpolitischen Zwängen bemäntelt werden kann, ist das eine Rechtslage, die keine Staatsführung, die ein Unrechtsregime abgelöst hat und ihre Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen will, ignorieren sollte.
Die Anwendung des Rechts ist jedoch nur ein Element in der politisch-moralischen Bewertung von Vergangenheit. Es ist gewiss das wichtigste, weil es erlaubt, Verbrechen Verbrechen zu nennen und den Rahmen für die Analyse und Darstellung von Geschichte abzustecken - die NS-Hauptkriegsverbrecher sind eben nicht, wie Hermann Göring noch während der Prozesse vorhersagte, von den folgenden Generationen als Helden gefeiert worden. 7 Der justizielle Prozess wird ergänzt oder unterstützt von anderen Faktoren, die einzeln oder im Zusammenwirken über seinen Ausgang entscheiden. Eine Selbstverständlichkeit ist, dass ohne die Feststellung der Wahrheit keine wirkliche Auskunft darüber zu erlangen ist, wer wem was wann und wo angetan hat. Ohne Wahrheit gibt es aber auch keine Gerechtigkeit für die Opfer (und ebenso wenig, was oft vergessen wird, für die Täter). Und ohne Gerechtigkeit, zu der auch die weitestmögliche Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts und materielle Entschädigung gehören, bleibt Versöhnung häufig nichts anderes als ein wohlklingendes Wort. Alles in allem ist Vergangenheitspolitik somit ein umfassender, vornehmlich aus legislativen und justiziellen Maßnahmen bestehender Vorgang, der, wenn er glücklich verläuft, irgendwann in Geschichtspolitik - verstanden als eine rückblickende und identitätsstiftende Deutung und Erinnerung - übergeht. 8
Bis dahin ist es, denken wir nur an unsere eigene deutsche Geschichte, oftmals ein sehr langer Weg. Schon der Beginn der Vergangenheitspolitik kann nicht statisch festgelegt werden. In einem Land, in dem die Regierungsgewalt einen Völkermord gegen Teile der eigenen oder fremden Bevölkerung organisiert und mittels seiner bewaffneten Organe durchgeführt hat, wird der Druck, die Verantwortlichen zu benennen und vor Gericht zu stellen, überaus groß sein. Ihm nicht nachzukommen, hieße das Risiko heraufzubeschwören, dass wilde Vergeltungsaktionen eine Gewaltspirale in Gang setzen, welche den Neuanfang - man erinnere sich an die mahnenden Worte Thomas Manns - mit einer schweren Hypothek belasten würde.
In einem Land hingegen, in dem die Zahl der Opfer nicht so hoch ist und in dem, was noch wichtiger ist, die früheren Machthaber zwar formal ihre Macht, nicht aber ihren Einfluss verloren haben - die lateinamerikanischen Länder mögen hier als Beispiel dienen -, kann das sofortige Betreiben einer Vergangenheitspolitik für die Stabilität des Landes - und das bedeutet: für den demokratischen Übergang selbst - verhängnisvolle Konsequenzen haben. Wohl oder übel wird in diesem Fall eine Amnestieregelung zugunsten der früheren Täter akzeptiert werden müssen, was für die Opfer eine extrem belastende Situation darstellt. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine Amnestie nicht Unrecht zu Recht erklärt, sondern "lediglich" auf die Verfolgung des Unrechts verzichtet. Entschädigungsleistungen sind gleichwohl möglich, ebenso wie Versuche zur Wiedergutmachung von Unrecht, allen voran die Rehabilitierung. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass die legislativ erlassenen, letztlich jedoch unter Zwang ausgehandelten Amnestiegesetze nach einer Phase der politischen Konsolidierung auch wieder aufgehoben werden können. 9 Trotzdem, und dies wird den meisten Opfern keine Ruhe lassen, besteht aufgrund einer Amnestie die Gefahr, dass die Verbrechen und das durch sie hervorgerufene Leid in Vergessenheit geraten. Eine individuelle Schuld ist schließlich, da sich Amnestien gewöhnlich pauschal auf einen bestimmten Zeitraum beziehen, nie öffentlich festgestellt worden. In Spanien hat das Vergessen bekanntlich beinahe dreißig Jahre gedauert. Jetzt wird es allmählich brüchig - ein schwacher und später, für viele zu später Trost.
Dieselbe Unterscheidung in Bezug auf die Dimension des ausgeübten Unrechts ist zu machen, wenn es um die Instanz geht, welche die treibende Kraft im anfänglichen Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung ist. Genozidale Massengewalt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen fordern eine strafrechtliche Ahndung, sei es durch nationale Gerichte oder, wegen des aus der Schwere der Taten erwachsenden Bestrafungsinteresses der Staatengemeinschaft, durch ein internationales Tribunal.
Auf diktatorische Gewalt jedoch, deren Exekutoren Mord, Folter oder langandauernde und zielgerichtete Diskriminierung vorzuwerfen ist, wird in der Regel eher in Form von Wahrheitskommissionen reagiert werden. Das hat, weil es den Beschuldigten eine Amnestie gegen ein vollständiges Geständnis zusichert, naturgemäß viel mit der bereits angesprochenen Macht- und Einflussverteilung in den betreffenden Staaten zu tun, folgt aber auch dem Wunsch, durch den Verzicht auf Strafe den Prozess der Versöhnung im Land zu befördern. Wer nicht Gefahr läuft, inhaftiert zu werden, gesteht leichter, und wer gesteht, trägt dazu bei, qualvolle Ungewissheiten zu beseitigen. Zu wissen, wann ein Angehöriger gestorben und wo er begraben ist, kann eine Trauerarbeit in Gang setzen, die den Blick für das soziale Umfeld wieder öffnet und Annäherung möglich macht. Darin könnte ein erster Schritt in Richtung des großen Zieles Versöhnung liegen.
Dass die meisten Kommissionen, die zur Untersuchung der Vergangenheit eingesetzt wurden, in ihrem Namen noch den Zusatz "Versöhnung" tragen, sich also "Wahrheits- und Versöhnungskommission" nennen, erklärt sich indes nicht allein dadurch, dass der Name gewissermaßen für ein Programm und ein entsprechendes Ziel steht. Über den Namen versichern sich die Kommissionen auch der wohlwollenden Aufmerksamkeit des Auslands und der notwendigen publizitären wie finanziellen Unterstützung. In Ruanda, wo, wie wir gesehen haben, auf die Sensibilisierung für vergangenes Unrecht großen Wert gelegt wird, findet sich kein öffentlicher Hinweis auf den Völkermord, ohne dass nicht auch die Notwendigkeit der Versöhnung beschworen wird. "Die Wahrheit heilt", heißt es von Plakaten an Straßen und Plätzen, und: "Wenn wir gestehen, was wir getan haben, wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wird das unsere Wunden heilen". Andere Plakate zeigen Aufnahmen von Gerichtsverhandlungen und verkünden in großen Lettern die Botschaft: "Wahrheit - Gerechtigkeit - Versöhnung".
Besser kann, so scheint es, Vergangenheitspolitik nicht begonnen oder begleitet werden. Doch das Beispiel Ruanda zeigt auch - und deshalb soll hier abschließend noch einmal darauf zurückgekommen werden -, wie trotz bester Absichten, die wir unterstellen wollen, Versöhnung in immer weitere Ferne rücken kann. Die Menschen in Ruanda sind enttäuscht, resigniert und wütend. Zu große Erwartungen wurden geweckt, zu stark war der Druck auf Täter und Opfer, durch Gestehen und Verzeihen aufeinander zuzugehen, und zu parteiisch war die Wahrheit, die von der neuen Regierung vorgegeben wurde.
Nehmen wir den Fall des Massakers in einer Klosteranlage in der Nähe von Butare, einer Stadt im Süden Ruandas. 4 000 Menschen waren dort in der zweiten Aprilhälfte des Jahres 1994 umgebracht worden. Die Täter sitzen, heißt es, in zwei Gefängnissen, die sich nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt befinden. Rechnet man ihre Geständnisse zusammen und nimmt die Zahl derer hinzu, die nach den bisherigen Erfahrungen noch gestehen werden, kommt man auf eine Zahl von etwa 1 000 Morden. Anders ausgedrückt: 3 000 Ermordete haben keinen Täter. Ist das, fragen Angehörige der Toten und Überlebende, Gerechtigkeit? Man könnte ihnen antworten, dass es keine absolute Gerechtigkeit gebe und dass das Recht eben die vordringliche Aufgabe habe, das durch die Alltäglichkeit der Verbrechen in der Vergangenheit lädierte Rechtsempfinden der Menschen wieder herzustellen. Man könnte auch noch sagen, dass die Anwendung des Rechts auch ein Akt der Vergeltung sei, der beim Opfer wenn nicht Genugtuung, so doch das Gefühl, in seinem Leid ernst genommen zu werden, schaffe. 10 Beides würde wohl mangels der vielen nicht konkret benennbaren Täter nichts an der Meinung der Angehörigen ändern, wonach Recht und Gerechtigkeit zwei grundverschiedene Dinge seien und sie sich für das eine so wenig kaufen könnten wie für das andere. Letzteres ist durchaus wörtlich gemeint, denn Entschädigungsleistungen, welche die dunkle Einsicht in die Realität der Rechtsanwendung hätten aufhellen können, sind zum ganz großen Teil bis heute ausgeblieben.
Nehmen wir als zweites Beispiel die Tätigkeit der sogenannten Rasengerichte, deren Existenz auf die traditionelle ruandische Gacaca-Justiz zurückgeht (Gacaca = Rasen). Diese Form der Justiz wurde reaktiviert, um angesichts der großen Zahl der Völkermordverdächtigen die ordentliche Strafgerichtsbarkeit zu unterstützen. Mittlerweile hat jedoch die Gacaca-Gerichtsbarkeit, die als eine Wahrheitskommission mit Strafkompetenz bezeichnet werden kann (das Strafmaß endet bei 30 Jahren Gefängnis), die beinahe ausschließliche Zuständigkeit für die Ahndung von Völkermordverbrechen. Das liegt zum einen daran, dass es weit mehr Gacaca-Gerichte als ordentliche Strafgerichte gibt, nämlich annähernd 11 500 (je ein Gericht in jeder Zelle und in jedem Sektor, den beiden untersten Verwaltungseinheiten), zum anderen liegt es an deren Besonderheit: Die Verfahren finden unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung statt. Aus ihren Reihen kommen die Laienrichterinnen und -richter, sie übernimmt, weil seinerzeit Zeugin der Verbrechen, die Rollen des Anklägers und des Verteidigers. Wichtiger als die Verurteilung des Täters ist aber, der Tradition der Gacaca- Justiz entsprechend, das gemeinsame Reden über das, was geschehen ist. Durch die Konfrontation mit den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden soll den Tätern die Tragweite ihres Handelns vor Augen geführt werden, und umgekehrt sollen Erstere erkennen können, dass die Täter Menschen sind, die aus einem ganzen Bündel von Gründen - nicht zuletzt aus einem großen Gruppendruck heraus - gehandelt haben. Dabei herrscht Einigkeit darüber, dass es an den Tätern ist, den ersten Schritt zu machen. Geständnisse werden folglich mit erheblichen Strafnachlässen honoriert.
Das klingt alles gut und vorbildlich, hat aber einen gravierenden Fehler: Es funktioniert nicht richtig. Lassen wir den Aspekt, dass die Opfer kein Interesse an einer wie auch immer gearteten Versöhnung haben mögen, einmal außen vor. Sichtbarstes Zeichen dafür, dass der Prozess ins Stocken geraten ist, ist das wachsende Desinteresse und das um sich greifende Schweigen der Bevölkerung in den Verhandlungen. Auf diese Weise äußert sie - die sich zu über 80 Prozent aus Hutu zusammensetzt - ihren Protest gegen die offizielle Sichtweise, der zufolge Täter nur unter den Hutu, Opfer nur unter den Tutsi zu finden sind. Es werde vergessen, dass der Völkermord Teil eines mehrjährigen Bürgerkriegs gewesen sei, in dem beide Seiten Verbrechen begangen hätten.
Dieses Argument ist, auch wenn der Vorwurf des Völkermords im Raum steht, nicht von der Hand zu weisen. Ohne nur im Entferntesten die Zahl der Toten aufrechnen zu wollen, kommt man doch um die Feststellung nicht umhin, dass durch den Krieg und die als Reaktion auf den Völkermord verübten Racheakte Abertausende Hutu ihr Leben verloren haben (verlässliche Zahlen gibt es nicht; die unterschiedlich motivierten Angaben schwanken zwischen 30 000 und 500 000). Zwar hat die neue Regierung schon mehrfach erklärt, die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu wollen; erst aber müsse das weitaus größere Verbrechen des Völkermords geahndet werden. Bis heute allerdings gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Ankündigung Taten folgen sollen.
Es ist bekannt, dass es, abgesehen von Fällen höherer Gewalt, eine Identität als Opfer ohne Täter nicht geben kann. Diese banale Feststellung hat jedoch fatale Konsequenzen, wenn die Ausschließlichkeit der Täter-Opfer-Wahrnehmung zum beherrschenden Muster der Vergangenheitspolitik wird, eine gerade nach ethnischen Konflikten als nicht gering zu veranschlagende Gefahr. Sie wird sich früher oder später darin äußern, dass auch dort, wo nachweislich Täterschaft vorhanden ist, ein Selbstbild entsteht, in dem ebendiese Täterschaft nicht mehr vorkommt - allen Anstrengungen wie den im Gefängnis von Myowe unternommenen zum Trotz. Damit aber wären wir wieder am Anfang des Kreises von Gewalt und Gegengewalt, welcher der als Titel dieses Essays formulierten Forderung nach der Vergangenheit, die nicht ruhen darf, eine ganz andere Bedeutung verleihen würde.
1 'Vgl. Petra
Bock/Edgar Wolfrum, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Umkämpfte
Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und
Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen
1999, S. 8.'
2 'Vgl. Walther L. Bernecker, Krieg in
Spanien 1936 - 1939, 2. vollständig überarbeitete
Auflage, Darmstadt 2005, S. 228ff.'
3 'Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden,
Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1984, S. 24.'
4 'Vgl. Gerd Hankel, Die Leipziger
Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche
Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003, S. 21 - 87, 518
- 523.'
5 'Vgl. Thomas Mann, Fragile Republik.
Thomas Mann und Nachkriegsdeutschland. Herausgegeben von Stephan
Stachorski, Frankfurt am Main 1999, S. 45.'
6 'Der Biafra-Krieg (1967 - 1970) war
ein Konflikt zwischen der nigerianischen Zentralregierung und der
Bevölkerung der Igbo um die Region Biafra.'
7 'Vgl. Gustave M. Gilbert,
Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem
Gerichtspsychologen, Frankfurt am Main 1995, S. 155.'
8 'Vgl. Bock/Wolfrum (Anm. 1), S.
9.'
9 'Vgl. Jon Elster, Die Akten
schließen. Recht und Gerechtigkeit nach dem Ende von
Diktaturen, Frankfurt/M. 2005, S. 75 - 78.'
10 'Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Das
Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters - als Problem,
in: ders., Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Reclam-Ausgabe,
Stuttgart 2002, S. 74 - 83.'