Kein europäischer Staat ist so kompliziert verfasst wie Bosnien-Herzegovina: Nicht nur mehr als ein Dutzend Parlamente galt es bei den Wahlen am 1. Oktober in dem Balkanstaat neu zu besetzen, sondern auch vier Präsidenten zu wählen: Drei - einen Bosniaken, einen Serben und einen Kroaten - für die gemeinsame Präsidentschaft des Staates, einen für die seit dem Krieg serbisch dominierte Hälfte Bosniens, die Republika Srpska. Über die künftige Zusammensetzung der Parlamente wurde auf Staatsebene und gesondert in den beiden so genannten Entitäten abgestimmt. Neben der Republika Srpska ist die zweite der durch den Krieg entstandenen Entitäten die Föderation von Bosniaken und Kroaten, die wiederum in zehn Kantone mit eigenen Parlamenten aufgeteilt ist.
Es ist schwierig, das Gewirr der Ergebnisse auf einen Nenner zu bringen, zumal sich der Prozess der Regierungsbildungen womöglich bis ins Jahr 2007 ziehen wird. Fest steht aber, dass die seit Kriegszeiten dominierenden "Nationalparteien" - die Partei der Demokratischen Aktion (SDA) der Bosniaken, die Serbische Demokratische Partei (SDS) und die Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) an Boden verloren haben. Vor allem SDS und die in zwei konkurrierende Blöcke zerfallene HDZ können ihren Anspruch, gleichsam die einzigen "rechtmäßigen" Vertreter ihrer jeweiligen Volksgruppe zu sein, nicht länger aufrechterhalten. Das werten viele als gutes Zeichen, doch sollte diese Entwicklung nicht mit einem Abflauen des Nationalismus und des monoethnischen Wahlverhaltens in Bosnien gleichgesetzt werden. Denn die Sieger der Wahlen verdanken ihre Erfolge nicht zuletzt ihrer aufgeheizten und zum Teil nationalistischen Rhetorik. Am deutlichsten hat das die Konfrontation zwischen Haris Silajdzic mit seiner Partei für Bosnien und Herzegovina (SBiH) und Milorad Dodik an der Spitze des Bundes der unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) gezeigt. Silajdzic konnte sich im dritten Versuch seit 1996 im Rennen um den für Bosniaken reservierten Platz in der gemeinsamen Präsidentschaft durchsetzen, Dodiks Sozialdemokraten wurden die stärkste Partei auf Staatsebene und unangefochtener Wahlsieger in der Republika Srpska.
Es liegt in der vertrackten Logik der bosnischen Nachkriegspolitik, dass beide Politiker ihre Erfolge wesentlich ihrem jeweiligen Gegner verdanken. Dodik und Silajdzic haben, indem sie einander in der Öffentlichkeit scharf attackierten, letztlich als gegenseitige Wahlkampfhelfer agiert. Silajdzic etwa forderte eine Abschaffung der Republika Srpska und einen administrativen Neuzuschnitt des Landes in ethnisch gemischten Kantonen. Dodik reagierte darauf mit der Drohung, die Republika Srpska werde sich in einem Referendum von Bosnien abspalten. Moderatere Parteien hatten das Nachsehen. Es stellt sich die Frage, ob Dodik und Silajdzic nun, da die politische Ernte eingefahren ist, maßvollere Positionen einnehmen und die in Bosnien anstehenden Aufgaben lösen werden.
Einen Hoffnungsschimmer wollen manche Beobachter in Sarajevo darin erkennen, dass Zeljko Komsic von der Sozialdemokratischen Partei (SDP) künftig als kroatischer Vertreter der Präsidentschaft angehören wird. Die SDP gilt als die einzige maßgebliche Partei des Landes, die multiethnisch ausgerichtet ist und von allen Volksgruppen des Dreivölkerstaates gewählt wird. Komsic bezeichnete sich nach seinem Wahlsieg denn auch als Präsident aller Bürger des Landes und nannte die Verfassungsreform als Priorität seiner Arbeit. Bemerkenswert ist, dass er sich gegen die Kandidaten der HDZ sowie der neu entstandenen HDZ 1990 und deren jeweiligen Alleinvertretungsanspruch für die Kroaten Bosniens durchsetzen konnte. Einen Erfolg wie den ihres Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf konnte die SDP als Partei allerdings nicht erringen. Sie erhielt zwar 16 Prozent der Stimmen (gegenüber zehn Prozent 2002), doch hatten einige der in Bosnien stets mit Vorsicht zu wertenden Prognosen ihr ein besseres Abschneiden vorausgesagt.
Einscheidend sind die Verluste der SDS unter den Serben. Die von dem 1995 vom Haager UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien als Kriegsverbrecher angeklagten Serbenführer Radovan Karadzic gegründete Partei erhielt in der Republika Srpska nur 19 Prozent der Stimmen. Auch ihr Kandidat für den serbischen Platz in der Präsidentschaft unterlag dem von Dodiks Sozialdemokraten nominierten Politiker Nebojsa Radmanovic deutlich. Westliche Diplomaten in Sarajevo reagierten erfreut auf diesen Einbruch der "Karadzic-Partei", deren einstiger Führer seit Jahren als untergetaucht gilt und sich nach der Einschätzung nicht weniger Beobachter womöglich in einem serbisch-orthodoxen Kloster versteckt hält.
Wie die künftig regierende Koalition auf Staatsebene sich zusammensetzen wird, ist noch offen. Die Aufgaben, die sie wird bewältigen müssen, stehen dagegen schon fest: Dies ist vor allem die Reform der Verfassung und der Polizeistrukturen des Landes. Letzteres ist von der EU zu einer Vorbedingung für den Abschluss eines Assoziierungsabkommens gemacht worden. Ein solches Abkommen dürfte bis zum Ende des Jahres unterschriftsreif vorliegen. Ob es dann jedoch zur Unterzeichnung kommt, ist ungewiss. Der Versuch, die Polizeistrukturen des Landes neu und ohne Rücksicht auf den innerbosnischen Grenzverlauf zwischen Förderation und der Republika Srpska zuzuschneiden, ist in diesem Jahr schon einmal gescheitert. Ob ein neuer Anlauf erfolgreicher endet, wird auch vom Geschick des ehemaligen deutschen Postministers Christian Schwarz-Schilling abhängen, der seit Jahresbeginn das macht- und verantwortungsvolle Amt des Hohen Repräsentanten der Staatengemeinschaft in Sarajevo innehat und damit als Aufseher über die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton aus dem Jahr 1995 der machtvollste Mann im Staate ist. Eine Verfassungsreform kann jedoch selbst der Hohe Repräsentant nicht dekretieren.