Doch was sind eigentlich die Qualitätsmerkmale für das autobiografische Werk eines ehemaligen Bundeskanzlers? Was erwarten die Leser von einem solchem Buch? Tiefgehende, eventuell gar selbstkritische Analysen des Autors über sein Handeln in der Vergangenheit nebst Ausblicken auf die nahe und ferne politische Zukunft des Landes? Reflexionen über innere Zerissen- und Unsicherheiten in einsamen Stunden der Entscheidungsfindung? Gnadenlose Abrechungen mit Gegnern und Kritikern? Lob und Anerkennung für politische Weggenossen?
Probiert hat sich Gerhard Schröder in seinen "Entscheidungen" an all diesen Zutaten, die eine lesenswerte, durchaus brisante Mischung ergeben könnten. Damit dieses Unterfangen gelingen möge, hat Schröder bei seinem ehemaligen Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye zudem Rat und Tat eingeholt. Dass er diese Information seinen Lesern nicht vorenthält, dafür ist Schröder zu loben. Nicht jeder prominente Polit-Schreiber gewährt so offenherzig Einblick in die Entstehungsgeschichte seiner Werke.
Doch trotz schmackhafter Zutaten und Beratung ist nur ein Schnellschuss und in weiten Teilen ermüdendes, wenn nicht gar langweiliges Buch entstanden. Und das, obwohl uns Schröder aus seinen Jugendtagen zu berichten weiß, wie sehr er für die amerikanische Krimi-Serie um den Anwalt Perry Mason schwärmte. "Er löste die vertracktesten Fälle in wahrlich brillianter Manier. Wie Perry wollte ich werden." Also Anwalt - und später Bundeskanzler.
Am Stoff liegt es nun wahrlich nicht, dass die "Entscheidungen" auf den wenigsten der rund 500 Seiten wirklich fesseln können. Denn eines war die siebenjährige Kanzlerschaft Schröders sicher nicht - langweilig. Kaum hatte der Kanzler 1999 mit seinen Minis-tern am Kabinettstisch Platz genommen, da sah er sich schon mit den ersten wahrhaft "vertracktesten Fällen" konfrontiert. Ob er sie alle in der "meisterlichen Manier" eines Perry Mason gelöst hat, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin, Schröder ist zur Selbstkritik fähig. Allerdings spricht er all zu gerne von "wir", wenn er Fehleinschätzungen während seiner Regierungszeit eingesteht, und all zu oft von "ich", wenn es um unbestrittene Verdienste geht.
Die internen Auseinandersetzungen mit Oskar Lafontaine und dessen Fahnenflucht in einer wahren Nacht-und Nebel-Aktion, der Kosovo-Konflikt und damit verbunden die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands nach Ende des Zweiten Weltkrieges stellten die ersten Prüfungen für die noch junge und unerfahrene Regierung dar. Es folgten innenpolitische Auseinandersetzungen beispielsweise um den Atomaustieg, die Riester-Rente und den Doppelpass für Ausländer gepaart mit diversen Ministerrücktritten. Und schließlich stellten die Terroranschläge des 11. Septembers die ganze Welt auf den Kopf. Deutschland zieht - noch "uneingeschränkt solidarisch" - an der Seite der USA in den Anti-Terror-Kampf. Aber erst, nachdem Schröder eine eigene Mehrheit per Vertrauensfrage erzwingt. Wenig später versagte er den USA die Gefolgschaft im Irak-Krieg. Deutschland ersparte er mit dieser Entscheidung jene katastrophale Situation, in der die Amerikaner nun stehen, und gewann die Bundestagswahlen von 2002. Seine zweite Amtszeit stand dann ganz im Zeichen der Agenda 2010 und der so genannten Hartz-Reformen.
Von all diesen politisch höchst spannenden Zeiten bis hin zu seiner Entscheidung für Neuwahlen weiß Schröder zu berichten. Doch je näher Schröder dem Ende seiner Amtszeit kommt, desto mehr lässt er es an Tiefgang missen. Geradezu unverdaut scheinen die Erlebnisse des Jahres 2005. Es fehlt deutlich der von Schröder selbst erwähnte "zeitliche Abstand", der den Blick schärft für die Zusammenhänge und deren Beurteilung. Die Folgen eines Schnellschusses eben.
Und doch darf man dieses Buch zur Lektüre empfehlen. Denn es gewährt tiefe Einblicke in die Seelenlage eines Mannes, der sich selbst gerne als souveränen und energischen Staatsmann - nicht zuletzt durch die dem Buch beigefügten zahlreichen Bilder - präsentiert. Besonders tief lässt es blicken, wenn man die Passagen über Angela Merkel liest. Sicherlich muss ein ehemaliger Kanzler seiner politischen Kontrahentin kein ganzes Kapitel widmen. Drei Erwähnungen jener Frau, die ihn im Kanzleramt ablöste, mögen auch ausreichend sein. Aber dass Schröder es fertig bringt, die damalige Oppostionsführerin nicht einmal beim Namen zu nennen und statt dessen lieber von der "CDU-Parteivorsitzenden", der "Kanzler-Kandidatin" oder der "Mitstreiterin" von Edmund Stoiber schreibt, ist dann doch wohl eher kleinkarriert und stillos. Und es offenbart, dass Schröder nicht annähernd so souverän mit dem Verlust der Macht umzugehen weiß, wie er gerne glauben machen möchte.
Schrieben den "suboptimalen" Auftritt, wie sich Ehefrau Doris äußerte, am Wahlabend noch viele dem Überschwang angestauter Gefühle zu, so beweist Schröder nun, dass es sich damals eben nicht um einen Ausrutscher handelte, sondern um einen kalkulierten Ausdruck seiner innersten Überzeugung. Wie schreibt er doch so treffend: "Aufgeschrieben habe ich, was mir wichtig schien." Eben. Merkel ist unwichtig für Schröder.
Wer sich bis zu dieser Stelle des Buches durchgelesen hat, findet sich auf der ersten Seite des Epilogs wieder, den Schröder treffend mit "Was bleibt" - ohne Fragezeichen - überschrieben hat. Was bleibt? Dies ist genau die Frage, die sich der Leser auch stellt. "Auf die Gefahr, dass es pathetisch klingt: Ich kann sagen, dass ich während meiner Kanzlerschaft immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe." Nein, pathetisch klingt dieser Satz nicht, sondern komplett überflüssig. Dass ein Bundeskanzler nach Ehre und Gewissen handelt, ist das Minimum, das man von ihm erwarten darf. Und sonst? "Wir haben begonnen, unser Land im Innern und nach außen neu auszurichten. Deutschland ist nach diesen sieben Jahren zukunftsfähiger geworden. Die Reformmaßnahmen der Agenda 2010 haben Verkrustungen in unserer Gesellschaft aufgebrochen. Unsere Gesellschaft haben wir tiefgeifend ..." Nein, das wahre Gefühl für die in den vergangenen Wochen so häufig beschworene "Gerd-Show" stellt sich bei solchen Sätzen nicht ein. Vielleicht hilft ja eine Flasche Bier beim Lesen. Die soll schon einmal einen Streik verhindert haben.
Gerhard Schröder: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik. Hoffman und Campe, Hamburg 2006; 544 S., 25 Euro.