Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als mein Vater in der Türkei verhaftet wurde", sagt Gurbit und trinkt einen Schluck schwarzen Kaffee. "Ich war damals zehn Jahre alt und kam gerade aus der Schule. Als ich in unsere Straße einbog, sah ich meine Großmutter. Sie stand schreiend vor dem Haus. Und dann sah ich die Polizisten, die meinen Vater in ein Auto zerrten." Die 21-jährige Kurdin spricht hastig, stellt klirrend die Tasse auf den Tisch zurück. Ihr Vater stand unter Verdacht, der kurdisch-nationalistischen Organisation PKK anzugehören. "Die Behörden wollten meinen Vater zwingen, ein Dorfschütze zu werden", erzählt Gurbit. Doch der lehnte es ab, Mitglied bei dieser Miliz zu werden, die gegen die PKK kämpft. Für die Polizei sei damit der Fall klar gewesen, sagt Gurbit. "Entweder du bist für sie und wirst Dorfschütze oder du bist Anhänger der PKK - und damit gegen sie. Dazwischen gibt es nichts." Dabei sei ihr Vater gar kein PKK-Anhänger gewesen. "Er wollte nur nicht gegen sein Volk arbeiten", erzählt Gurbit.
Die Familie litt fortan noch stärker unter den Repressalien, denen sie als Angehörige der kurdischen Minderheit in der Türkei schon seit jeher ausgeliefert waren. Die Polizei kontrollierte sie, durchsuchte die Wohnung nach Waffen. Umsonst. Es gab keine. Dennoch nahmen sie Gurbits Vater eines Tages zum Verhör mit. Erst Wochen später kam er wieder frei, man hatte ihm nichts beweisen können. Aber für die Familie stand fest: Sie wollte und konnte nicht mehr in der Türkei leben. 1996 besorgten Gurbits Eltern für sich und ihre neun Kinder ein Visum für die Einreise nach Deutschland. Dort angekommen, stellte die Familie noch im selben Jahr einen Asylantrag.
Seitdem lebt Gurbit in Berlin. Sie hat sich gut integriert - trotz der Angst vor der Abschiebung, die sie stets begleitete: Sie lernte Deutsch, ging zur Schule, fand Freunde. Vor zwei Jahren machte sie ihren Realschulabschluss, absolvierte danach eine berufsvorbereitende Schule. Im Sommer erhielt sie sogar eine Zusage für einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester. Anfang Oktober hätte sie anfangen können. Hätte. Doch Gurbits Traum ist zerplatzt: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte kürzlich den Asylantrag der Familie ab. Zehn Jahre nach der Antragstellung. Für Gurbit ein Schock: "Das ist unmenschlich! Wie kann man uns erst so lange im Unklaren lassen und dann abschieben?" Seitdem ist Gurbits Familie in Deutschland nur noch geduldet. Bis Mai ist ihre Abschiebung ausgesetzt. Was danach passiert, weiß Gurbit nicht. Erneute Duldung oder Abschiebung? Beides ist möglich. Ihren Ausbildungsplatz kann sie in keinem Fall antreten, deutsche Bewerber und Bewerber aus EU-Ländern haben Vorrang. Das hat die Agentur für Arbeit entschieden. Entsprechend der Rechtslage.
Geduldet sein, das hat nicht nur Gurbit erfahren, heißt mit zahlreichen Beschränkungen zu leben. Rund 150.000 Menschen in Deutschland geht es ähnlich. Sie dürfen keine Ausbildung oder ein Studium beginnen, es sei denn, es fehlen deutsche oder europäische Bewerber. Die Arbeitserlaubnis ist eingeschränkt. Auch räumlich stoßen sie schnell an Grenzen: Geduldete dürfen sich nur innerhalb ihres Landkreises frei bewegen. Wollen sie etwa Verwandte außerhalb besuchen oder mit auf Klassenfahrt gehen, brauchen sie eine Genehmigung. Läuft die Duldung ab, müssen sie jederzeit damit rechnen, abgeschoben zu werden. Bei Vielen wird die Duldung immer nur für wenige Monate verlängert. Mehr als 50.000 Menschen leben ein solches Leben auf Abruf, schon seit rund zehn Jahren.
Kirchen, Menschenrechtler und Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl fordern deshalb seit langem, solche Kettenduldungen abzuschaffen. Das neue Zuwanderungsgesetz, das seit Januar 2005 in Kraft ist, sollte schließlich genau dieses Problem lösen. Geduldete könnten nun viel schneller, bereits nach 18 Monaten ein Bleiberecht erhalten, vorausgesetzt, sie haben die Behörden nicht getäuscht und keine Straftaten begangen. Doch die Praxis sieht anders aus: Kettenduldungen gehören noch immer zum Alltag deutscher Zuwanderungspolitik.
In den vergangenen Monaten haben sich auch in der Politik Stimmen gehäuft, die eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete Menschen fordern. Auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) schlug im Juli vor, gut integrierten Ausländern ohne gesicherten Aufenthaltsstatus ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren: "Jeder sieht doch, dass man Kinder, die hier geboren wurden, zur Schule gingen und oft sogar einen guten Abschluss gemacht haben, nicht irgendwohin abschieben kann", begründete er seinen Vorschlag.
Wie jedoch dieses Bleiberecht aussehen soll, darüber waren sich die Innenminister der Länder lange uneins. Wer darf bleiben, wer nicht? Darüber wird gestritten. Auf ihrer nächsten Konferenz am 16./17. November in Nürnberg wollen die Innenminister trotzdem eine Regelung beschließen. Bisher besteht aber nur Konsens über einige Punkte: Voraussetzung sollen ein mindestens sechsjähriger Aufenthalt in Deutschland sein, die Erfüllung der Schulpflicht, Deutschkenntnisse, sowie die Fähigkeit seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Keine Chance sollen die haben, die Straftaten verübt oder die Behörden getäuscht haben, um eine Abschiebung zu verhindern.
Strittig ist die Frage, ob an das Bleiberecht auch ein uneingeschränktes Arbeitsrecht geknüpft ist, wie es etwa die Innenminister von Bayern und Niedersachsen anstreben: "Es muss eine Lösung gefunden werden, dass Ausländer mit Bleiberecht künftig in die Lage versetzt werden, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen", forderte Günther Beckstein (CSU) bereits Anfang Oktober. Auch für seinen Kollegen auch Niedersachsen ist das eine zentrale Vorraussetzung: "Eine Zuwanderung in die Sozialversicherung darf es nicht geben - dafür haben wir auch nicht die Zustimmung der Gesellschaft", sagt Uwe Schünemann (CDU). Seiner Meinung nach soll es ein Bleiberecht nur für die Familien geben, die gut integriert sind, wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und deren Kinder hier zur Schule gehen. Diejenigen, die keinen Arbeitsplatz vorweisen können, sollen aber noch eine Chance bekommen: "Ich bin dafür, in diesen Fällen die Duldung um sechs Monate zu verlängern", so Schünemann. Allerdings müsse gleichzeitig die Arbeitsaufnahme erleichtert werden.
Flüchtlingsorganisationen beobachten solche Einschränkungen mit großer Sorge: "Wir fürchten, dass so nur eine Minderheit von etwa 20.000 bis 30.000 der Dauergeduldeten eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen wird", sagt Marei Pelzer, rechtspolitische Referentin von Pro Asyl.
Gurbit will jedoch nicht aufgeben. Sie wird um das Recht, in Deutschland bleiben zu dürfen, kämpfen. Denn an eine Zukunft in der Türkei glaubt sie nicht. "Ich bin hier aufgewachsen, hier bin ich zu Hause", sagt sie. Zusammen mit anderen jungen Flüchtlingen engagiert sie sich deshalb in dem bundesweiten Netzwerk "Jugendliche ohne Grenzen". Mit der Kampagne "Hier geblieben!", die in Berlin unter anderem vom Flüchtlingsrat, Pro Asyl und der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft getragen wird, wollen die jungen Flüchtlinge über ihre Situation aufklären.
Wenn die Innenminister in Nürnberg zusammentreffen, wird auch Gurbit dabei sein. Sie hat eine Reisegenehmigung erhalten, die Gruppe plant eine Demonstration. "Wir kämpfen dafür, dass es endlich eine Regelung für uns alle gibt - nicht nur für bestimmte Gruppen", sagt Gurbit. Aber was erwartet sie? "Ich weiß es nicht", sagt sie, "ich hoffe einfach, dass ich endlich mein Leben auf die Beine stellen kann."