Wer wissen will, wie die Hochschule von morgen aussieht, kann das täglich in der Zeitung lesen: Voll wird es werden. Kultusminister, Bundesbildungsministerium und Hochschulrektoren - sie alle sind sich einig, dass die ohnehin notorisch überlasteten Hochschulen noch nie einen so großen Andrang verkraften mussten wie das bis 2015 der Fall sein wird. Ernst wird es schon in zwei bis drei Jahren, der Höhepunkt wird für 2012/2013 erwartet. Bis dahin, unken böse Geister, hätten Bund und Länder es auch sicher geschafft, sich auf einen Hochschulpakt zu verständigen, dessen Grundzüge eigentlich klar sind und dessen Abschluss doch seit Wochen verschoben wird. Beinhalten wird dieser vor allem Geld, mit dessen Hilfe der Studierendenberg über ein paar Jahre sozusagen abgetragen werden kann.
Weil die Zentren der deutschen Wissensgesellschaft aber nicht nur kurzfristige Berechnungen, sondern auch mittel- und langfristige Zukunftskonzepte brauchen, lud die Heinrich-Böll-Stiftung Ende Oktober zur Konferenz "hochschule@zukunft 2030" nach Leipzig ein. Nicht weniger als 25 Jahre wollte man dort, so versprach es schon der Titel, vorausschauen. In die ferne Zukunft also? Nicht wirklich. "Die Studierenden von 2025 sind bereits geboren; jene bis 2015 stehen heute und morgen vor den Toren unserer Hochschulen", gab der Vorsitzende der Stiftung, Ralf Fücks, zu bedenken.
Da es aber auch Wissenschaftlern schwer fallen kann, so weit nach vorn zu sehen, hatte die Grünennahe Organisation gründliche Vorarbeit geleistet: 350 Experten aus Hochschulen, Politik und Wirtschaft hatte der Berliner Erziehungswissenschaftler Gerhard de Haan in ihrem Auftrag vorab befragt. Mit Hilfe eines so genannten "Delphi", einer Methode der Zukunftsforschung, erstellte de Haan nicht nur ein Bild davon, wie die Experten sich die Hochschulen von morgen vorstellen - sondern auch darüber, wo Erwartungen und Wünsche auseinanderdriften.
Die Mehrheit der befragten Experten rechnet damit, dass die Qualität der Hochschulen in Zukunft stärker auseinanderklafft. Etwa jede zehnte Universität wird in Zukunft eine "Elite-Hochschule" sein; auf der anderen Seite wird jede dritte sich stark der Lehre und kaum der Forschung widmen und vor allem als regionale Universität eine Rolle spielen. Außerdem werden sich vermutlich die Universitäten 2030 internationalen Vergleichsstudien stellen müssen. Viele fürchten, dass Deutschland dabei nur in Ausnahmefällen Spitze sein wird.
80 Prozent der Experten gehen davon aus, dass der bildungsbewusste Studierende von morgen sich weltweit nach Bildung umschauen wird; ein Zustand, der den deutschen Standort allerdings nicht so hart treffen wird wie viele weniger entwickelte Länder, die noch viel stärker unter "Braindrain" - der Abwanderung hochqualifizierter Kräfte - leiden werden. Skeptisch betrachtet werden auch das Auseinanderdriften der deutschen Hochschullandschaft sowie die Überzeugung, dass Studiengebühren künftig einen wesentlichen Teil der Hochschulbudgets ausmachen werden. Durchschnittlich geschätzte 2.300 Euro bei großen Unterschieden zwischen Fach und Uni sollen Studierende zahlen; im internationalen Vergleich wird das noch wenig sein. Was bleibt? - Die Universität wird sich auch künftig nicht stark genug an lebensnahen Problemen orientieren, befürchten Experten.
Einig sind sich die Fachkreise, dass die Hochschule von morgen ganz verschiedene Studierende beherbergt. Lebenslanges Lernen wird zur Realität in einer Welt, in der es normal ist, dass eine Biografie Brüche aufweist: "Erwerbstätigkeit, Erwerbslosigkeit und Weiterqualifikation wechseln sich ab", heißt es in dem Hochschuldelphi. Die Hochschulen von morgen werden sich wesentlich stärker als Weiterbildungseinrichtungen verstehen müssen als sie das heute tun. Aber nicht nur das: Einhellig vertraten die aus dem ganzen Bundesgebiet angereisten Teilnehmer in Leipzig die Ansicht, dass die Hochschule sich für neue Zugangswege öffnen müsste: "Die Debatte darüber, wie man den Universitäten für ein paar Jahre mehr Kapazitäten verschafft, greift viel zu kurz", erklärte Jutta Allmendinger, Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, "die Hochschulen werden einen Weg finden müssen, dauerhaft einen wesentlich größeren Teil jedes Jahrgangs zu unterrichten - und zwar mit wie ohne Abitur."
Warum, das macht ein Blick auf den Arbeitsmarkt von morgen schnell deutlich: Wenn immer mehr akademisches Personal und immer weniger gering qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden, werden künftig auch viel mehr Schulabgänger - heute sind es rund 20 Prozent - studieren müssen. Bereits heute liegt die Arbeitslosigkeit unter Akademikern bei vier, unter Unqualifizierten bei 23 Prozent - ein gutes Argument dafür, massiv mehr Akademiker auszubilden.
In internationalen Vergleich hinkt Deutschland allerdings schon bei der Zahl der Abiturienten hinterher: Nur gut jeder dritte schafft hierzulande das Abitur. In Finnland bekommen neun von zehn, in den USA drei von vier Schulabgänger eine Studienberechtigung. Andere Länder, sagt Allmendinger, böten aber außerdem wesentlich mehr Wege ins Studium: etwa für Menschen, die sich in ihrem Beruf weiterqualifizieren oder in späteren Jahren dazulernen wollen, und zwar ganz unabhängig von ihren Noten und ihrem Schulabschluss.
Die Soziologin Allmendinger, die von kommendem Frühjahr an Direktorin des Wissenschaftszentrum Berlin sein wird, stellt sich das so vor: Das Abitur solle nur eines von mehreren Kriterien für die Zulassung sein; außerdem könnten berufliche Erfahrung und soziales Engagement zählen; unter Umständen in Verbindung mit einem Kompetenztest, wie man ihn von Pisa kennt. Auch der Vorschlag, Bewerbern erst einmal ein einjähriges Probestudium zu ermöglichen, bevor man sie annimmt oder ablehnt, stieß in Leipzig auf Gegenliebe.
Den wenigen Skeptikern versicherte Andrä Wolter vom Hannoveraner Hochschul-Informations-System HIS: "In der Mehrheit der Industriestaaten sind solche Modelle ganz normal." Dass eine so tief greifende Reform des Hochschulwesens teuer sein wird, stritten die Experten gar nicht ab. Aber, so Allmendinger: "Wenn wir nicht investieren, verspielen wir die Zukunft unserer Kinder."