Das Parlament: Frau Deligöz, nach mehreren Wochen Aufruhr um ihren Aufruf an muslimische Frauen, das Kopftuch abzunehmen: Wie geht es Ihnen?
Ekin Deligöz: Das ist schwer zu sagen. Einerseits habe ich in den vergangenen Tagen ein paar sehr schöne Dinge erlebt, von denen ich glaube, dass sie mich auch für die Zukunft prägen werden. Dazu gehört vor allem die einhellige und parteiübergreifende Solidarität meiner Parlamentskollegen. Oder auch wenn Bischof Huber mir öffentlich in seiner Rede vor der Synode seine Unterstützung ausspricht und mich binnen fünf Minuten mehrere SMS erreichen, in denen mir das berichtet wird, sind das Momente, in denen ich sehr glücklich bin über den Rückhalt, den ich bekomme. Auf der anderen Seite gehen der Hass und die Abwertung, die mir von manchen Seiten entgegenschlägt, nicht spurlos an einem vorüber.
Meine Personenschützer sind nette Menschen. Aber ich hätte schon gerne die Möglichkeit, mich nicht nur in ständiger Begleitung fortzubewegen. In einer solchen Bedrohungssituation zu leben ist nichts, was einen kalt lässt - als Abgeordnete nicht und als Privatmensch und Mutter schon gar nicht.
Das Parlament: Nach der Morddrohung gegen Sie hat Ihre Fraktion Vertreter islamischer Verbände zum Dialog eingeladen. Was ist dabei herausgekommen?
Ekin Deligöz: Gut war, dass es dort ein ganz klares und grundsätzliches Bekenntnis zur Meinungsfreiheit gab; und auch dazu, dass Meinungs- und Religionsfreiheit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. In inhaltlichen Fragen der Kopftuchdebatte hat das Gespräch nichts Neues erbracht. Die Unterschiede bleiben bestehen. Und dass ich im Vorfeld des Gesprächs über die mangelnde Unterstützung der islamischen Verbände - mit Ausnahme der Aleviten - schon sehr enttäuscht war, will ich auch nicht verhehlen.
Das Parlament: Der Aufruf, um den es geht, lautet: "Ich appelliere an die muslimischen Frauen: Kommt im Heute an, kommt in Deutschland an. Ihr lebt hier, also legt das Kopftuch ab! Zeigt, dass Ihr die gleichen Bürger- und Menschenrechte habt wie die Männer." Hat Sie überrascht, welche Lawine an Reaktionen Sie damit ausgelöst haben?
Ekin Deligöz: Ja, sehr!
Das Parlament: Warum eigentlich? Der Umgang mit dem Kopftuch ist doch seit Jahren ein sehr emotional besetztes Thema.
Ekin Deligöz: Dennoch habe ich mir das Ausmaß nicht vorstellen können. In der Debatte um die Lehrerin Fereshta Ludin, die an einer staatlichen Schule mit Kopftuch unterrichten wollte, habe ich vor nicht allzu langer Zeit eine viel weiter gehende Position vertreten, die weniger diskutiert wurde: nämlich für ein klares Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen.
Das Parlament: Mit welcher Begründung?
Ekin Deligöz: Das Kopftuch ist ein religiöses Symbol, das als solches schon an Schulen nichts verloren hat. Dazu kommt aber, dass es stark mit einer klaren Rollenzuweisung an die Frau verbunden ist: und zwar als Symbol der Unterdrückung. So etwas gehört nicht in das Klassenzimmer. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, das ist ein zentraler Wert dieses Landes. Wer hier lebt, der sollte ihn anerkennen.
Das Parlament: Und zwar nicht nur als Lehrerin - Ihr Aufruf richtet sich schießlich an alle Musliminnen. Wollen Sie es den Frauen nicht selbst überlassen, wie sie sich kleiden?
Ekin Deligöz: Ich überlasse es ihnen! Ich will das Kopftuch nicht verbieten, ich will mich dazu äußern und an die Frauen in diesem Land appellieren: Das Kopftuch ist nicht nur ein Stück Stoff, sondern ein politisches Symbol. Überlegt Euch, was Ihr ausdrückt, wenn Ihr es tragt - und denkt darüber nach, ob Ihr es nicht lieber ablegen wollt.
Das Parlament: Nun sagen viele Frauen, dass sie das Kopftuch freiwillig tragen und gerade nicht als Zeichen ihrer Unterdrückung empfinden. Laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung sagen 90 Prozent von über 300 befragten Musliminnen, dass das Kopftuch ihnen Selbstbewusstsein verleiht.
Ekin Deligöz: Sicher gibt es auch aufgeklärte Frauen, die ein Kopftuch tragen als Zeichen ihrer Identität, vielleicht sogar als ein Accessoire. Die erwähnte Studie der Adenauer-Stiftung ist allerdings empirisch nicht repräsentativ. Niemand wird das derzeit sicher quantifizieren können. Mein eigener Eindruck ist eher: Die Mehrheit der Musliminnen in Deutschland hat nicht das Selbstbewusstsein, an Umfragen teilzunehmen und sich zu ihrer Lage zu äußern. Sehr viele Frauen fühlen sich nicht wohl unter ihrem Kopftuch und trauen sich bisher nicht, es abzulegen. Für sie spreche ich und ihnen würde ich gerne eine Stimme verleihen. Und was den Symbolcharakter des angeblichen Kleidungsstücks angeht: Wäre es kein politisches Symbol, stünde ich jetzt auch nicht unter Polizeischutz.
Das Parlament: Haben Ihnen in den vergangenen Wochen nicht auch viele Frauen geschrieben, warum sie ein Kopftuch tragen?
Ekin Deligöz: Bislang habe ich hunderte E-Mails erhalten. In den ersten Tagen enthielten sie vor allem vehemente Ablehung meiner Position, ganz überwiegend von Männern. Salopp formuliert, erklärten die mir, warum ihre Frauen das Kopftuch freiwillig tragen müssen. Nach und nach hat sich das Niveau der Debatte allerdings gehoben und versachlicht.
Das Parlament: Inwiefern?
Ekin Deligöz: Die ersten Tage kamen fast nur Beschwerdebriefe aus Deutschland und der Türkei, beleidigend und einschüchternd geschrieben. Es hieß, ich würde meine Kompetenzen überschreiten, rassistisches Gedankengut verbreiten und vieles mehr. Überwiegend waren die Schreiber vielleicht Privatpersonen, aber ich vermute sehr stark, dass es auch eine regelrechte Hetzkampagne von organisierten islamischen Fundamentalisten gab. Das spiegelte sich in Berichten einschlägiger Zeitungen in der Türkei.
Seit Neuestem erreichen mich aber auch Briefe von Menschen, die wirklich diskutieren wollen, darunter übrigens viele Frauen, die eine inhaltliche Debatte anstoßen und führen wollen: über das Kopftuch, aber auch über den Islam an sich, über islamischen Religionsunterricht oder darüber, dass manche Kinder aus angeblich religiösen Gründen nicht den Schwimmunterricht besuchen dürfen. Genau so einen konstruktiven Dialog brauchen wir in Deutschland. Ich hätte mir nur gewünscht, dass wir gleich damit begonnen hätten.
Das Parlament: Was glauben Sie, warum die Reaktionen auf Ihren Aufruf heute extremer ausfallen als das vermutlich vor ein paar Jahren der Fall gewesen wäre?
Ekin Deligöz: Ich kann da auch nur spekulieren. Ein Teil der Erklärung ist sicherlich, dass es unter organisierten Muslimen so etwas wie ein neues Selbstbewusstsein gibt, nicht zuletzt hervorgerufen durch den so genannten Islamgipfel, den Wolfgang Schäuble initiiert hat. Im Prinzip ist das natürlich erfreulich. Die Debatte über den Islam in Deutschland steht in der Breite ja wie gesagt erst am Anfang. Wir müssen sie führen und dürfen uns nicht vor ihr drü-cken. Aber gleichzeitig muss auch ganz klar sein und gesagt werden: In dieser Debatte sind auch kritische Töne erlaubt und gewollt. Und in einer Demokratie wird auf Kritik nicht mit Beleidigung und Verunglimpfung reagiert, sondern mit Argumenten. Zweitens ist leider auch unübersehbar, dass es einen erstarkenden islamischen Fundamentalismus gibt.
Das Parlament: Auch Kopftücher sieht man öfter als vor ein paar Jahren. Worauf führen Sie das zurück?
Ekin Deligöz: Ich glaube, das Kopftuch ist auch eine Reaktion darauf, dass Menschen sich zu wenig zugehörig fühlen. Viele Türken in Deutschland leiden darunter, dass sie nirgends wirklich gewollt werden. In der Türkei sind sie Deutsche, in Deutschland Türken. Menschen brauchen aber eine Identität, das ist die Basis ihres Lebens. Und Religion bietet ein Identifikationsmuster, das auch sehr unreflektiert angenommen werden kann. Mit dem Symbol dieser Religion - dem Kopftuch - hat man nicht nur die Möglichkeit, sich zum Islam zu bekennen, sondern sich auch optisch von einer Gesellschaft abzugrenzen, die einen nicht wirklich willkommen heißt.
Das Parlament: Liegt es also doch an der deutschen Gesellschaft, dass viele Frauen meinen, ihr Haupt schützen zu müssen?
Ekin Deligöz: Dass die deutsche Integrationspolitik in den vergangenen Jahrzehnten immens viel versäumt hat, steht doch völlig außer Frage! Muslime in diesem Land haben zu wenig Mitspracherecht, man hat sie zu lange nicht gehört und ausgegrenzt, und vor allem: Kinder aus Migrantenfamilien haben viel zu wenig Chancen auf Bildung und Ausbildung. Der Nachholbedarf ist enorm. Auch deswegen engagiere ich mich seit meinem Eintritt in den Bundestag vor inzwischen acht Jahren in der Kinder- und Familienpolitik. Aber: Integration ist ein Vertrag mit zwei Partnern. Ich versuche, meinen Teil dafür zu tun, dass dieses Land eine Kultur des Willkommens und des Miteinanders und der Gleichberechtigung gegenüber seinen Einwanderern entwickelt. Und ich erwarte von den anderen, dass sie ihren Teil tun und sich nicht gezielt absetzen.
Das Parlament: Ist die Islamkonferenz, die Innenminister Wolfgang Schäuble in diesem Sommer ins Leben gerufen hat, ein Schritt in die richtige Richtung?
Ekin Deligöz: Zunächst einmal ja. Das Wichtigste an ihr ist das Signal: Wir debattieren auf gleicher Augenhöhe. Endlich! Diesem Versprechen müssen allerdings auch Taten folgen, die zeigen, dass die Politik zugehört und etwas gelernt hat. Man kann nicht auf der einen Seite nett beisammen sitzen und vom anderen etwas wissen wollen und auf der anderen eine immer restriktivere Ausländerpolitik machen. Dieser Staat muss bereit sein, vernünftige Rahmenbedingungen und eine Perspektive für Zugewanderte und Zuwanderer zu schaffen. Auf der anderen Seite müssen die Muslime bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, und zwar echte Verantwortung. Nur wenn es gelingt, auf dieser Basis ein echtes Miteinander hinzubekommen, wird es auch gelingen, Parallelgesellschaften abzubauen. Fundamentalismus sollte in einer demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben. Und ich bin der festen Überzeugung: Ein mit wirklicher innerer Überzeugung geführtes demokratischeres Zusammenleben wird den Fundamentalismus zurückdrängen und hoffentlich verschwinden lassen.
Das Interview führte Jeannette Goddar