Die Geschichte der deutschen Sozialpolitik ist durch ihre "Pfadabhängigkeit" und ständige, kurzfristige, politische Eingriffe (Reformen) geprägt. "Pfadabhängig" ist der Sozialstaat seit Bis-marck, der das Sozialversicherungssystem mit seiner an das Erwerbseinkommen gebundenen Finanzierung begründete. Dieser - die Arbeitskosten hochtreibende und damit arbeitsmarktpolitisch kontraproduktive - Pfad wurde selbst 1995 bei der Einführung der Pflegeversicherung noch beschritten.
Ständige Reformen erfolgen wegen ökonomisch oder demografisch begründeter Finanzierungskrisen in einzelnen Zweigen des Sozialsystems sowie der hohen Interessengebundenheit der Sozialpolitik. Konträr stehen sich etwa die Kosten der sozialen Sicherung und die seit ihrer Einführung handlungsleitende Orientierung am sozialen Frieden gegenüber. Sehr deutlich wird durch das neue Buch des Sozialhistorikers Gerhard A. Ritter, wie wichtig die soziale Befriedung durch Sozialpolitik auch für den Prozess der deutschen Vereinigung war und ist. Ritter untersucht vor allem die Transferphase der deutschen Vereinigung, also die Zeit von 1989 bis etwa 1995. In dieser Phase wurden wesentliche sozialpolitische Entscheidungen getroffen und abgesichert.
Wenn der Autor dabei auf bis heute nachwirkende negative Auswirkungen auf den Sozialstaat zu sprechen kommt, weist er stets darauf hin, dass es für die Zusammenführung zweier wirtschaftlich unterschiedlich entwickelter und auch kulturell differierender Gesellschaften keinen "Masterplan" gegeben habe. Freilich habe auch kein schlüssiges sozialpolitisches Konzept vorgelegen.
Die Dynamik der Vereinigung zwang einerseits die Bundesregierung zur Übertragung des westdeutschen Sozialstaatsmodells auf das Beitrittsgebiet. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, teils infolge der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und des maroden Kapitalstocks, teils wegen des Wegbrechens traditioneller Märkte des ehemaligen COMECON, führte zu rasch aufwachsender Arbeitslosigkeit. Diese mit den Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu dämpfen war auch nach Ritters Ansicht alternativlos, denn ansonsten wären die innerdeutschen Wanderungsbewegungen noch viel gravierender ausgefallen als ohnehin zu konstatieren. Die in hohem Maße auch sozialpolitisch tätigen Betriebe in der DDR konnten diese Funktion nicht mehr ausfüllen, so dass sozialstaatliche Alternativen notwendig waren. Die sozialstaatliche Absicherung erhöhte zudem die Akzeptanz der neuen politischen Ordnung in der DDR-Bevölkerung. Insofern war die Übertragung des westdeutschen Sozialmodells auf die neuen Länder alternativlos.
Auf der anderen Seite erschien die Verlagerung der Beitrittskosten auf die Sozialsysteme für die Regierung Kohl aber auch der einfachere Weg. Die heutige Krise des Sozialstaates entwickelte sich neben den "alten" Ursachen vor allem auch vereinigungsbedingt. Weil die Koalition aus Unionsparteien und FDP aus ideologischen Gründen keine - hier aber sachgerechte - Steuererhöhungen wollte, wurden die beitragsfinanzierten Sozialversicherungen zur Einheitsfinanzierung herangezogen.
Dies belastet bis heute die Beitragszahler wie die Rentenbezieher in der Rentenversicherung. Die Interessenunterschiede zwischen wohlhabenden und ärmeren Bundesländern zeigten sich jüngst erst wieder beim Streit um die Gesundheitsreform, die vorhersagbar nur wenige Jahre überdauern wird.
Für Leser mit zeithistorischen Kenntnissen, die über sozialpolitisches Grundlagenwissen verfügen, bietet das Buch von Gerhard Ritter hervorragende Informationen. Die verarbeiteten Quellen werden sehr gut lesbar und klar strukturiert aufbereitet. Gegenwärtige Probleme des Sozialstaates werden vor dem Hintergrund der Vereinigungs-Sozialpolitik in der Transferphase erklärbar, die Dilemmata der handelnden Personen werden verständlich, ebenso wie das Desiderat eines über Legislaturperioden hinausgehenden konsen- sualen sozialpolitischen Konzepts.
Gerhard A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates. Verlag C.H.Beck, München 2006; 541 S., 38 Euro.