Bis Seite 57 muss sich der Leser gedulden, dann geht es endlich los: "Jetzt aber zur Sache", steht da verheißungsvoll. Fortan scheint sich der Autor an eine bewährte Maxime zu halten: Gib ihm Saures! Genauer gesagt: ihr, der Großen Koalition, die dürfe nämlich "keine kleinen Brötchen backen". Und exakt das tun Union und SPD offenbar aus Sicht des Philosophiestudenten, der dem Bündnis ein Seneca-Zitat entgegenschleudert: "Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer." Der Verfasser dekliniert seinen Verriss vor allem anhand dreier Projekte durch. Die Mehrwertsteuererhöhung: "Gift für die Konjunktur". Die Gesundheitsreform: ein "Weg in die Sackgasse". Das Elterngeld: die "größte Ungerechtigkeit, die man sich vorstellen kann". Angela Merkel wird in dem Werk nicht persönlich angegriffen, darf sich indes sehr wohl attackiert fühlen.
Den Reiz dieses Bands macht es aus, dass ein prominenter Parteifreund der Kanzlerin kaum ein gutes Haar an der Berliner Politik lässt: Erwin Teufel ist es, der bis zu seinem von Günther Oettingers Seilschaft erzwungenen Rückzug im April 2005 stolze 14 Jahre lang Baden-Württemberg regiert hat. Zunächst wollte er nur noch Privatier sein, dann erregte der Pensionär durch die Aufnahme eines Philosophiestudiums ein gewisses Aufsehen. Offenbar vermisst der einstige Landesvater aber doch die Politik. In komprimierter Form hätten die 160 Seiten eine Parteitagsrede abgeben können. Solche Foren aber hat Teufel nun nicht mehr. Deshalb ein Buch.
Da kann man natürlich nicht bereits auf Seite eins zur Sache kommen, die muss man schon in Tiefgründig-Analytisches einweben. Wobei der Autor abwiegelt: Um ein "wissenschaftliches Werk" handele es sich nicht. Immerhin streut Teufel an vielen Stellen Zitate diverser Geistesgrößen in den Text ein, von Karl Popper ("Grundeinsichten sind alle sehr einfach"), von Golo Mann ("Wir sind, was wir gelesen") und Aristoteles ("Die Vernunft allein bewegt nichts"). Das, was der Verfasser selbst beisteuert, hört man auch ansonsten vielfach: dass Politik des Vertrauens der Bürger bedürfe, dass "Wertorientierung" vonnöten sei, dass es "kein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem" gebe, wie wichtig die Bildung für die Wettbewerbsfähigkeit sei, dass die Staatsverschuldung, die im Südwesten zu Teufels Amtszeit drastisch gestiegen ist, "alle Grenzen sprengt".
Doch dem Autor geht es vor allem um die aktuelle Politik, und da bläst er der Großen Koalition gehörig den Marsch. Besonders weh tun muss Merkels Riege seine Abrechnung mit Mehrwertsteuererhöhung, Gesundheitsreform und Elterngeld. Die Anhebung der Mehrwertsteuer sei doch bereits bei der Bundestagswahl "abgestraft" worden. Die Gesundheitsreform werde in "Zentralisierung, Bürokratisierung, Uniformierung, Reduzierung des Wettbewerbs und Kostensteigerung" münden. Der Fonds sei der "erste Schritt in die Einheitsversicherung". Beim Elterngeld empört Teufel, dass die Supermarktkassiererin 800 Euro, die Rechtsanwältin aber 1.800 Euro erhalte: "Der Staat maßt sich an, Kinder und Mütter unterschiedlich zu bewerten und zu behandeln." Das sehen gewiss viele so.
Starker Tobak für die in der Hauptstadt. Allerdings: Warum entdeckt Teufel erst jetzt den Bundespolitiker in sich? Während seiner Zeit als mächtiger Regent am Neckar spielte er in Bonn und dann in Berlin nur eine Nebenrolle. Was der forsche Kritiker seinerseits an Alternativen zu bieten hat, dürfte im Übrigen das Publikum nicht gerade von den Stühlen reißen: Es sind Ingredienzien aus der altbekannten konservativ-wirtschaftsliberalen Rezeptur - etwa Arbeitszeitverlänger- ung ohne Lohnausgleich oder höhere Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen, mithin eine stärkere Belastung von Kranken. Und als Highlight muss das Steuerkonzept eines Professors namens Paul Kirchhof herhalten. Dessen Modell erlitt jedoch im Bundestagswahlkampf gehörig Schiffbruch. Dieses Debakel führt Teufel kurzerhand auf Gerhard Schröders Gegenkampagne zurück, die "niederträchtig" gewesen sei. Eine solche Erklärung mutet denn doch recht schlicht an. Aber über "einfache Wahrheiten" will der Philosophiestudent laut Buchtitel ja auch schreiben.
Erwin Teufel: Maß & Mitte. Mut zu einfachen Wahrheiten. Johannis-Verlag, Lahr 2006; 160 S., 9,95 Euro