Seit Rankinglisten und national wie international vergleichende Leistungsstudien die deutschen Bildungspolitiker aufschrecken und zu Panikattacken veranlassen, sind Erziehung und Bildung wieder öffentliche Themen, über die ebenso gestritten wird wie über notwendige und sinnvolle Reformen des Bildungssystems. Die Literatur hierzu ist Legion und meist im Topos der Klage mit kulturpessimistischen Untertönen geschrieben. Zuletzt war es Bundespräsident Horst Köhler, der in seiner viel beachteten Berliner Rede den "Mangel an Bildung" in unserem Land als "beschämend" bezeichnete.
Der kleine Band des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann ist zwar auch nicht frei von Klagen, aber er klagt auf hohem, gleichwohl allgemeinverständlichem Niveau, ohne einem larmoyanten Kulturpessimismus zu verfallen. Bereits der Titel lässt den Anknüpfungspunkt des Autors erkennen. Es ist Adornos "Theorie der Halbbildung" aus dem Jahre 1959, die er neben der klassischen Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts oder der Bildungskritik Friedrich Nietzsches aufgreift und radikalisiert, ja radikalisieren muss, weil unter den gegenwärtigen Bedingungen sich die Bildungsverhältnisse so verändert haben, dass die Vorstellungen klassischer Bildungstheorien geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden. "Nicht Halbbildung ist das Problem unserer Epoche", so Liessmanns These, "sondern die Abwesenheit jeder normativen Idee von Bildung, an der sich so etwas wie Halbbildung noch ablesen ließe." Unbildung meint jedoch nicht die Abwesenheit von Wissen oder gar Dummheit, bezeichnet wird damit auch kein intellektuelles Defizit, sondern in erster Linie der Verzicht darauf, etwas verstehen zu wollen, also seinen Sinn erschließen, Bedeutungen erkennen und Zusammenhänge herstellen zu können. Je mehr der Wert des Wissens beschworen wird, so Liessmann, "desto schneller verliert das Wissen an Wert".
Die Abkehr von der Idee der Bildung zeigt sich für den Autor am stärksten in den Zentren der Bildung, nämlich in den Schulen und den Universitäten. Als prägnantesten Indikator sieht er dafür die Umstellung so genannter Bildungsziele auf Fähigkeiten und Kompetenzen wie Kommunikationsbereitschaft, Flexibilität und Teamfähigkeit.
In insgesamt neun Kapiteln diskutiert und reflektiert der Autor den zunehmenden Prozess der Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens einerseits an verschiedenen Beispielen, andererseits auch historisch-systematisch beziehungsweise begriffstheoretisch. Liessmann zeigt seinen Lesern die Schwächen und Risiken von Begriffen wie Informationsgesellschaft oder Wissensgesellschaft, die angeblich die kapitalistisch verfasste Industriegesellschaft abgelöst hätten. Sein kritisches Augenmerk gilt jenen Prozessen der Wissenserzeugung und -verwendung, in denen das Wissen zunehmend industrialisiert und Bildungsstätten in Dienstleistungsunternehmen transformiert werden. Speziell die PISA-Studien werden schulisch als Exempel für die technokratische Umsteuerung des Bildungssystems herangezogen, die Wissen eher mit Ranglisten denn mit Denken verbindet.
PISA zu bestehen, das ist die Maxime vieler Bildungspolitiker geworden, die Bildungs- und Lernprozesse mit nationalen Leistungswettbewerben um Medaillenplätze verwechseln. Die Miseren der europäischen Hochschulen wiederum haben für Liessmann schlussendlich einen Namen, nämlich den des 1999 eingeleiteten "Bologna-Prozesses", mit dem für ihn die Verabschiedung der europäischen Hochschulidee eingeleitet wurde.
Aus dieser Perspektive nimmt der Begriff der Reform ganz eigene Facetten an, die weniger an ein Versprechen nach Verbesserung der Bildungssituation denn an eine Drohung erinnern. Liessmanns abschließende Forderung - "Schluss mit der Bildungsreform" - speist sich deshalb aus der düsteren Ahnung, dass Liberalisierung und Autonomie zwar zu den beliebten Schlagworten der Bildungsreformer zählen, "aber damit sind offenbar nicht Selbstbestimmung und Freiheit gemeint, sondern ein immer enger werdendes Netz von Kontrollen und ein zunehmender Mangel an Op-tionen". Wie dem entgegengesteuert werden kann, das allerdings lässt der Autor offen.
Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006; 175 S., 17,90 Euro.