Trubel herrscht unter den 1.000 Besuchern des Zeltlagers: Rockkonzerte bringen das Demonstrantenvölkchen in Stimmung, Artisten und eine Zirkustruppe sorgen für künstlerisches Flair. Im Dörfchen Bure in Ostfrankreich protestieren Nukleargegner mit einem politisch-kulturellen Festival gegen das Projekt eines unterirdischen Atommüllendlagers, das dort von der Pariser Regierung mit Erkundungsbohrungen vorangetrieben wird. Schon seit Jahren ist der Landstrich um die lothringische Kleinstadt Bar-le-Duc im Departement Meuse, gerade mal 100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, Schauplatz solcher Manifestationen.
Zu den von der regionalen Gruppierung "Bure-Stop" und der nationalen Assoziation "Sortir du nucléaire" ("Raus aus der Nuklearenergie") organisierten Aktionen stoßen jedes Mal Sympathisanten aus der Schweiz, aus Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Luxemburg, Belgien und selbst aus dem niedersächsischen Gorleben. Einmal marschieren unter der Parole "Wir haben genug vom Atommüll" einige hundert Kernkraftgegner vom Atommeiler Cattenom nahe der luxemburgisch-saarländischen Grenze eine Woche lang 160 Kilometer bis Bure. Ein anderes Mal erlebt Bar-le-Duc einen Zug mit 5.000 Teilnehmern unter dem Motto "Vergiftet nicht die Erde!". Auch Corinne Lepage, die ehemalige konservative Umweltministerin, ist dort häufig zu sehen.
An vielfältigen und transnational unterstützten Protesten mangelt es nicht. Gleichwohl segelt dieser Streit um die Entsorgung des noch zehntausende von Jahren radioaktiv strahlenden Abfalls eher im Windschatten politischer und medialer Wahrnehmung in Europa. Das mutet erstaunlich an. Denn Atomstrom fließt schließlich grenzenlos durch die Netze. Der französische Konzern Electricité de France (EdF) ist Mitbesitzer des Karlsruher Energiekonzerns EnBW und damit mehrerer Kernkraftwerke in Baden-Württemberg. Fahren die Castorbehälter aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague durch Lothringen und das Elsass bis nach Niedersachsen, provozieren die Widerstandsaktionen französischer und deutscher Öko-Aktivisten stets erheblichen Aufruhr in beiden Ländern. Auseinandersetzungen um Sicherheitsprobleme in Cattenom oder im elsässischen Atommeiler Fessenheim gehören zum Alltag grenzübergreifender Politik, die Stadt Freiburg verlangt gar die Abschaltung Fessenheims. Weil die Schweiz in Benken unweit der deutschen Grenze die unterirdische Deponierung des eidgenössischen Strahlenabfalls untersucht, wird selbst die Stuttgarter Regierung immer mal wieder in Bern vorstellig und fordert Mitsprache bei diesem Vorhaben.
Beim Streit um das französische Endlager herrscht indes international eine gewisse Funkstille. Im Rahmen grenzübergreifender Gremien auf Kabinetts- und parlamentarischer Ebene ist dieser Konflikt kein Thema. "Während mitten in Europa in Bure das neben dem Atomkraftwerk Cattenom größte Atomprojekt entsteht, hüllen sich die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und dem Saarland sowie die luxemburgische Regierung fast schon demonstrativ in Schweigen", kritisiert Markus Pflüger von der Stop-Bure-Gruppe in Trier. Vielleicht sind es ja die 100 Kilometer Entfernung, die beruhigend wirken. Doch Corinne Francois von "Bure-Stop" verweist auf unterirdische Wasservorkommen in Südlothringen, die im Fall eines Falles atomar verseucht werden könnten - und solche Wasserströme pflegen langsam, aber stetig zu wandern. Francois erwähnt zudem geologische Verwerfungen und "die Gefahr von Erdbeben". Ostfrankreich wurde in den vergangenen Jahren mehrmals von Erdbeben erschüttert.
Im Übrigen ist die Vermutung alles andere als weltfremd, dass radioaktiver Abfall auch aus anderen Staaten nach Bure gebracht werden könnte. La Hagues Wiederaufbereitung lebt bereits von solchen Geschäften: Die Verantwortung für die Sicherheit und die Risiken einer Deponie hat insofern durchaus internationale Aspekte. Formell beschlossen ist noch nichts. Im Sommer hat die Pariser Nationalversammlung im Grundsatz beschlossen, dass es in Frankreich mit seinen 57 Reaktoren ein Endlager für Atommüll geben soll. Ein konkreter Standort wurde noch nicht festgelegt, doch geforscht wird weiterhin nur in Bure. Die Kernkraftgegner kritisieren deshalb, dass die Vorentscheidung für Lothringen faktisch schon gefallen sei.
Die Erkundungsbohrungen in den Tonschichten nimmt die Andra vor, die "Nationale Agentur für die Behandlung radioaktiver Abfälle". Rund 450 Millionen Euro hat Paris bereits in deren Forschungslabor gesteckt. Aus Sicht der Andra sind die geologischen Formationen der Region um Bure geeignet für eine unterirdische Deponie. In Lothringen will die Andra ein "reversibles" und damit weltweit neuartiges Konzept für die Endlagerung entwickeln. Der stark strahlende Abfall soll in 500 Meter Tiefe "sicher" verwahrt werden, gleichwohl aber mehrere hundert Jahre lang zugänglich bleiben - für den Fall, dass es später einmal technisch möglich werden sollte, auch diesen brisanten Müll wiederzuverwerten oder unschädlich zu machen. Nicht nur für die Nuklearkritiker, auch für die internationale Atombranche steht in Bure einiges auf dem Spiel.
Vielleicht provoziert dieser Streit trotz seiner politischen Tragweite auf europäischer Ebene auch deswegen keine große Aufmerksamkeit, weil der Widerstand in Frankreich selbst keinen starken Rückhalt findet. Frankreich ist ein Nuklearland, 80 Prozent des Stroms stammen aus Reaktoren. In Paris gibt es weder im Regierungs- noch im Oppositionslager eine nennenswerte Kraft, die diesen Kurs ändern will. Ein Endlager ist ein unverzichtbarer Bauteil dieser Strategie. Im strukturschwachen Südlothringen wiederum ist man froh, dass durch Investitionen in Bure, durch Steuerzahlungen und durch Wirtschaftsförderung Geld in die Region fließt. Das Parlament des Departements Meuse hat mit großer Mehrheit für die Errichtung des Forschungslabors votiert. Die internationalen Demonstranten vor dessen Toren bleiben da machtlos und weitgehend unbemerkt.