Der Mainstream der öffentlichen Meinung, der Wirtschaftswissenschaften und der Politik geht seit Jahren davon aus, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig sei. Die gestiegene Arbeitslosigkeit schien auch ein starkes Indiz für diese Behauptung zu sein, wenngleich übersehen wurde, dass es Ende der 80er-Jahre in Westdeutschland und Ende der 90er-Jahre in Deutschland zu Aufschwüngen kam. Auch 2006 geht es offenkundig wieder aufwärts. Und zwar ohne dass die immer wieder geforderten harten "Strukturreformen" zuvor stattgefunden hätten, die auch wieder nach Bildung der Großen Koalition eifrig gefordert wurden.
Weder wurde der Kündigungsschutz ganz abgeschafft, noch wurde die Krankenversicherung privatisiert oder die Rentenversicherung komplett auf Kapitaldeckung umgestellt. Und der westdeutsche Aufschwung Ende der 80er-Jahre fand statt, ohne dass der Ladenschluss auch nur liberalisiert, geschweige denn abgeschafft worden wäre. Auch die Bürokratie, darunter insbesondere die Amtliche Statistik, die die knapp bemessene Zeit von in Talkshows auftretenden Unternehmern immer wieder auffrisst, wurde damals nicht abgebaut. Trotzdem fanden die Aufschwünge statt - wie sich auch jetzt ein Aufschwung ereignet, ohne dass zuvor auch nur eine der genannten Strukturreformen "konsequent durchgezogen" worden wäre. Das spricht nun alles nicht gegen jede Strukturreform, denn zu verbessern gibt es immer etwas; und die Alterung der Bevölkerung, die einen Umbau der sozialen Sicherung notwendig gemacht hat, steht noch bevor.
Aber der jüngste Aufschwung zeigt, dass es um den "Standort Deutschland" nicht so schlecht bestellt sein kann, wie in Talkshows gerne beklagt wird. Das liegt unter anderem daran, dass die Welt der Unternehmen nicht so einfach funktioniert, wie das alte Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre suggerieren. Wenn die makroökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland stimmen, wie das nicht zuletzt durch die Reform-Pause in Deutschland zur Zeit der Fall ist, hat die Deutsche Wirtschaft offenbar nach wie vor ein enormes Wachstumspotenzial.
Der "Rheinische Kapitalismus", der auf langfristige Unternehmensentwicklung und Solidarität zwischen Individuen setzt, hat auch in einer globalisierten Volkswirtschaft durchaus Vorteile gegenüber einem Hire-and-Fire-Kapitalismus angelsächsischer Herkunft und höchstwahrscheinlich auch gegenüber dem das Kollektiv überbetonenden asiatischen Kapitalismus. Die eigentlichen wirtschaftlichen Probleme in Deutschland sind der durch hausgemachte politische Fehler entstandene sehr hohe Sockel von Langzeitarbeitslosen und das schlechte Bildungssystem, das gegenwärtig jeden fünften jungen Menschen ohne einen vernünftigen Schulabschluss ins Leben schickt.
Standort-Vergleiche, meist in Form von Rankings als simple Hitlisten präsentiert, sind bei Lobbyisten und in Talkshows außerordentlich beliebt. Dabei steht Deutschland bezüglich seiner "Wettbewerbsfähigkeit" meist im Mittelfeld; oft auch auf hinteren Plätzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Debatte schließlich mit der sommerlichen Behauptung getoppt, Deutschland sei ein Sanierungsfall. Aber: Überall in der Welt haben Unternehmer hohen Respekt von der Standortqualität des Exportweltmeisters Deutschland - und das nicht erst seit der Fußball WM wie uns einige Kommentatoren weismachen wollen.
Ein Exportweltmeister gehört erkennbar nicht zu den gern beschworenen "Verlierern der Globalisierung". Die Klage über die Verlagerung von Arbeitsplätzen aber ist ein beliebtes Lamento in Deutschland, das von der Gewerkschaftsseite, der politischen Linken und den Stammtischen kommt. Sicherlich gehören Un- und Angelernte zu den Verlierern der Globalisierung, welche Chancen für Billiglohnländer bietet, die viele von diesen auch erfolgreich nutzen. Aber selbst Un- und Angelernte profitieren von billigen Importen.
Insgesamt entstehen durch die Globalisierung in Deutschland mehr Arbeitsplätze als verlagert werden. US-Notenbankchef Bernanke hat sich zwar im Sommer 2006 überraschend kritisch zur Globalisierung geäußert und gefordert, dass die Verlierergruppen "Entschädigungen" erhalten sollten. Aber er ließ auch keinen Zweifel daran, dass von der Globalisierung gerade die alten Industrienationen profitiert haben. Bernanke nimmt in seiner Analyse Deutschland ausdrücklich als Beispiel dafür, dass in den alten Industrienationen durchaus noch hoch qualifiziert produziert wird. Er nennt das Beispiel des kalifornischen Chip Produzenten AMD, der in Texas, Japan und Deutschland Elektronik-Bauteile herstellt.
Die Endfertigung allerdings wird dann oft in Billiglohnländer verlagert; im Falle von AMD nach Thailand, Singapur, Malaysia und China. Erst da beginnt das Problem der Globalisierung für Länder wie Deutschland: Unqualifizierte Industriearbeiter werden immer weniger benötigt. Facharbeiter und Hochqualifizierte hingegen benötigt Deutschland jede Menge, denn die große Stärke im Export hat in einer durch Globalisierung wirtschaftlich wachsenden Welt eine große Zukunft. Dabei ist qualifizierte Teamarbeit in einer Mischung von Produktion und Dienstleistungen besonders gefragt. Genau das, was deutsche Exporteure traditionell auszeichnet, die auf stabile Belegschaften setzen, in denen sich individueller Ehrgeiz und kollegiales Verhalten die Waage halten.
Der "Rheinische Kapitalismus", der gekennzeichnet ist durch langfristige Investitionen, die auf von außen schwer durchschaubaren "Hausbanken" finanziert werden, Mitbestimmung der Arbeitnehmer und einen ausgebauten Sozialstaat, hat gute Überlebenschancen. Die Exportstärke Deutschlands ist dafür der beste Beleg. Aber die moderne Volkwirtschaftslehre liefert auch immer mehr wissenschaftliche Belege dafür, dass eine Volkswirtschaft nicht so simpel funktioniert, wie es die veralteten Thesen glauben machen wollen, die dem Studium der heutigen Lobbyisten und Talkshow-Talker zugrunde lagen.
Menschen sind offenkundig eigennützige Wesen, so wie das in den alten Lehrbüchern überbetont wird. Sie benötigen zugleich aber Vertrauen, Fairness und Solidarität, um sich wohlzufühlen und produktiv zu sein. Insofern ist es im Lichte der neuen wirtschafts- und verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse nicht überraschend, dass die auf langfristige Entwicklung, stabile Belegschaften und faire Entlohnung setzenden deutschen Unternehmen Exportweltmeister sind.
Uns fehlt ein Konzept, wie man das Bildungswesen rasch so verbessert, dass der Anteil junger Menschen ohne verwertbaren Schulabschluss drastisch sinkt. Und es fehlt ein Konzept, wie man den Langzeitarbeitslosen hilft, die auch in einem lang andauernden Aufschwung keinen Job mehr finden. Eine Möglichkeit wäre der aktuell diskutierte "Dritten Arbeitsmarkt", also etwa von den Kommunen angebotene Jobs für jene, die für den regulären Markt nicht fit genug sind und dennoch nicht untätig sein wollen. Was wir aber nicht brauchen für den Standort Deutschland, ist das ewige Standort-Lamento.
Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin und Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.