Die LPG hatte nach dem Fall der Mauer keine Kunden mehr und kein Geld, nur leere Hallen und eine Menge arbeitslose Mitarbeiter. Der Vorsitzende fuhr zur Grünen Woche nach Berlin, der größten Nahrungsmittelmesse der Welt. Dort lernte er den Geschäftsführer einer dänischen Brauerei kennen. Der LPG-Vorsitzende versuchte den Geschäftsführer zu überreden, eine Brauerei auf dem Gelände der LPG zu eröffnen, er bot ihm seine Hallen als Getreidelager an. Er sagte, er könne ihm viele billige Arbeiter vermitteln. Er war verzweifelt. Als der Brauer ein paar Wochen später tatsächlich die LPG besuchte, brachte er den Geschäftsführer von Netto in Dänemark mit.
Die beiden Männer sahen sich um. Sie sahen, dass die Löhne niedrig waren, dass es billige Grundstücke gab und kaum Konkurrenz, dass die Menschen in Ostdeutschland Lebensmittel und Bier wollten. "Zudem wurde eine unwahrscheinliche Förderung für wirtschaftliche Neuansiedlungen von Seiten der Politik angeboten", erklärt Margit Kühn, heute Geschäftsführerin von Netto-Deutschland. So kam es, dass am 14. September 1990 in einer alten Gaststätte in Anklam der erste Netto-Supermarkt außerhalb Dänemarks aufmachte. Ein historisches Datum.
Netto ist nur ein Beispiel. Während in Deutschland viel gejammert wird über die Verlagerung von Unternehmensstandorten und von Jobs ins Ausland, findet die Verlagerung in umgekehrter Richtung, aus dem Ausland nach Deutschland, wenig Beachtung. Schon seit Jahrzehnten sind Unternehmen wie Hewlett Pack-ard, Roche oder IBM in Deutschland präsent. Doch mit der Globalisierung nehmen die internationalen Verflechtungen zu. Eine ausgezeichnete Infrastruktur, ein immer noch hohes Bildungsniveau und durchaus moderate Lohnzuwächse machten die Bundesrepublik für internationale Konzerne besonders attraktiv, sagt Axel Werwatz, Leiter der Industrie Abteilung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Und auch als Absatzmarkt ist Deutschland für viele Unternehmen sehr attraktiv.
Nicht nur 242 Netto-Filialen mit 3.100 Beschäftigten sind inzwischen hier entstanden. Auch das neue Logistik-Zentrum des Konzerns, eine Investition von 40 Millionen Euro, steht nun in Wustermark bei Berlin. Im August vergangenen Jahres hat es mit 120 Mitarbeitern seinen Betrieb aufgenommen, im kommenden Sommer soll es endgültig fertig gestellt werden. Es herrscht hektische Betriebsamkeit. Gabelstaplerfahrer beladen LKW mit Katzenstreu und Schokolade, aus dem voll automatisierten Hochregallager schieben sich Paletten mit Senfgläsern nach vorne.
Natürlich sei die gute Infrastruktur Deutschlands von Vorteil, sagt Kühn. Dass sie den Weihnachtsschmuck aus China zum Beispiel, der jetzt noch in Containern verpackt im Lager steht, schnell über die Autobahnen an die Netto-Standorte in Polen schaffen können. Aber es sind nicht die Autobahnen allein. Der Konzern plant, jährlich 25 neue Filialen zu eröffnen. Und dabei wird er stark von der deutschen Politik unterstützt. So wurden Teile des neuen Logistik-Zentrums von der Investitionsbank des Landes Brandenburg gefördert. Und auch wenn die Gehälter in Ostdeutschland nicht mehr so niedrig sind wie kurz nach der Wende - aus dänischer Sicht sind sie immer noch günstig. In dem skandinavischen Land sind die Lohnkosten deutlich höher. Es soll bereits dänische Gewerkschafter geben, die über das Deutschland als Billiglohn-Paradies lästern.
Die Sache mit den Zitronen in Mecklenburg-Vorpommern ist auch so ein Fall. Pektin ist ein Geliermittel und wird aus Zitronenschalen gewonnen. In der Lebensmittelindustrie wird Pektin in Joghurt gerührt oder Limonaden beigemischt. Cargill, der drittgrößte Lebensmittelkonzern der USA, stellt neuerdings Pektin in Malchin her, einem abgelegenen kleinen Ort in der strukturschwachen Region Mecklenburg-Vorpommern. Dabei wachsen in Malchin keine Zitronen. Aber Deutschland ist mit seinen 83 Millionen Einwohnern und einem vergleichsweise hohen Pro-Kopf-Einkommen der größte Markt in Europa. Cargill wollte sich diesen Markt nicht entgehen lassen. Speziell für Malchin sprach, dass es dort bereits ein insolventes Pektin-Werk gab, das der Konzern kaufen konnte. Die Löhne in Mecklenburg-Vorpommern sind vergleichsweise günstig, zugleich sind die Deutschen im Schnitt besser qualifiziert als Arbeitskräfte etwa in Südamerika. Und sie streiken weniger als ihre Kollegen in Frankreich oder Italien. Die Zitronenschalen müssen immer noch aus Argentinien importiert werden. Aber seit Herbst 2005 produzieren 112 Mitarbeiter in Malchin Pektin für Deutschland und die ganze Welt. Das sind 112 Jobs, die die Globalisierung in die neuen Bundesländer gebracht hat.
Genaue Zahlen über den Zustrom von ausländischem Kapital gibt es nicht. Alle Beispiele bleiben Stückwerk. "Doch vor allem in kapital-, wissens- und forschungsintensiven Bereichen ist Deutschland für ausländische Unternehmen besonders interessant", stellt DIW-Ökonom Axel Werwatz fest. Und das wissen auch die Chinesen.
Bis ins schwäbische Schorndorf sind die Chinesen schon gekommen, alles wegen der deutschen Arbeitskräften und ihres Know-hows. Im vergangenen Jahr hat die Harbin Measuring and Cutting Tool Group (HMCT) aus Nordostchina die marode baden-württembergische Maschinenbaufirma Kelch gekauft. Die knapp 200 Mitarbeiter haben nun einen chinesischen Chef. Er spricht zu ihnen mit Hilfe eines Dolmetschers. Er konferiert regelmäßig per Video-Schaltung mit dem chinesischen Hauptquartier. Er wohnt in einer Firmenwohnung, wo ihn bisweilen eine gewisse Sehnsucht nach chinesischem Essen statt Kässpätzle befällt.
Kelch stellt Präzisionswerkzeuge für die Metallverarbeitung her. Es sind Waren, die auch HMTC in China zum Teil im Angebot hat. Die chinesischen Produkte jedoch sollen nun in Kelch perfektioniert und weiterentwickelt werden. Das ist keine einfache Sache. "Die Maschinen werden auch weiterhin in Schorndorf gebaut, da eben nur hier die Spezialisten sitzen", erklärt Ralf Liebrich, der Geschäftsführer der Kelch und Links GmbH, wie das schwäbische Werk nun heißt. Aber China ist nicht Dänemark - sind die Deutschen den Chinesen nicht viel zu teuer? "Die Rationalisierung in der Fertigung führt dazu, dass deutsche Arbeitnehmer trotz hoher Stundenlöhne konkurrenzfähig sind", meint DIW-Ökonom Werwatz. Zudem schätzten die Manager multinationaler Unternehmen die hohe Qualität der Ausbildung. Der Kelch-Geschäftsführer Ralf Liebrich erklärt es so: Ein deutscher Mitarbeiter im Bereich der Metallverarbeitung verdient nach Metalltarif, bei uns zwischen 2.400 und 4.400 Euro mal 13,5 Monatsgehälter. "Bei entsprechender Produktivität und Effizienz sind diese Lohnkosten nicht zu hoch. In China liegen die Verdienste zwar unter dem deutschen Niveau. Dafür bekommen Sie aber bei uns auch Qualitätsarbeit - eben 'Made in Germany'!" Und deutsche Wertarbeit verkauft sich auch in Asien gut.
Dass es auch ganz anders laufen kann, wenn ein Unternehmen aus dem Ausland ein hiesiges aufkauft, hat man zuletzt bei der Mobilfunksparte von Siemens erlebt. Sie hat die Übernahme durch das koreanische Unternehmen BenQ nicht lange überlebt. Kelch-Geschäftsführer Liebrich verweist darauf, dass die Chinesen sich bei Kelch "für mindestens die nächsten zehn Jahre festgelegt" haben; so lange läuft der Mietvertrag fürs Betriebsgelände, den sie unterschrieben haben.
In Deutschland kann man auf schnellen Autobahnen fahren. Aber Deutschland kann auch sehr langsam sein. Die Eintragung einer neuen Firma dauert einer Weltbank-Studie zufolge in Neuseeland nur zwei Tage, in Deutschland hingegen 41 Tage. Der Neuseeländer David O'Connor hat für seine Firma in Göppingen trotzdem nur vier Stunden gebraucht.
Mit weit aufgeknöpftem Polohemd ist O'Connor vor drei Jahren bei der Handelskammer in Göppingen aufgetaucht, braun gebrannt. Eine enorme Zuversicht strahlte er aus, so erzählen es Menschen, die damals dabei waren. Und so schaffte es O'Connor mit Hilfe des Göppinger Geschäftsführers der Handelskammer, die Termine Notar und Bank und Amtsgericht in nur vier Stunden zu erledigen. Es blieb sogar noch Zeit, sich unterwegs mit Leberkäsbrötchen zu versorgen. Wenn O'Connor sich nicht schon längst für Deutschland als Standort für seine Firma entschieden hätte - spätestens diese bürokratische Eilfertigkeit hätte ihn überzeugt. Seine Firma Connexion Point repariert Laufwerke aus Rechenzentren. Das Hauptquartier sitzt in Aukland, Neuseeland. Es gibt Filialen in Australien und England. Aber auch die Großrechner auf dem europäischen Kontinent gegen bisweilen kaputt. Ein Markt, den der Mann aus dem traditionellen Einwandererland Neuseeland bedienen wollte.
Damit die Transportkosten nicht in die Höhe schießen, braucht es einen zentralen Standort. Göppingen mag vielen Menschen nicht als der Nabel Europas erscheinen; aber für Connexion Points Kunden aus Holland, Polen, Italien, Österreich und Schweden ist die Verkehrsanbindung hervorragend. Die Rechner können problemlos in die Werkstatt nach Göppingen geschafft werden und wieder zurück. Es ist nicht Deutschlands Verdienst, dass es einen Standort im Mittelpunkt Europas bietet. Aber es nützt ihm.
Thomas Karzelek ist Pole. Man kann sagen: Ein Pole, der es in Deutschland geschafft hat. Er ist der Chef von ein paar deutschen Angestellten. Er betreibt eine jener kleinen Firmen, die immer wieder als Kern der deutschen Wirtschaft bezeichnet werden. Und er verkauft Computer nach Polen. Karzelek schätzt die deutsche Rechtssicherheit. "Wenn man in Polen einen Ladenraum mietet und das Geschäft gut läuft, kann es sein, das der Vermieter ankommt und plötzlich die doppelte Miete verlangt", sagt er. Karzelek schätzt die deutsche Stabilität. Zum Beispiel in der Steuerpolitik, sagt er, da wisse man in Polen nie, "was sich die Politiker in ein paar Wochen ausdenken". Als er im Uecker-Randow-Kreis, knapp vor der Grenze zu Polen, seine Firma IT-Solutions aufmachte, da hatte er zwar zunächst auch auf den deutschen Markt gehofft. Aber die Menschen in der Region sind arbeitslos, sie kaufen keine Computer. Jetzt lässt er drei von ihnen bei sich arbeiten. Und verkauft jenseits der Grenze. Und so ist auch dies ein kleines deutsches Wirtschaftswunder.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.