Es ist ein regenschwerer Nachmittag an diesem 27. März, um zehn Minuten vor zwei. Der Gigant aus Schanghai lässt sich langsam in den Hamburger Hafen ziehen. Direkt vor dem Fischmarkt setzt die Cosco Guanghzhou zu einem spektakulären Drehmanöver an. Der chinesische Ozeanriese unter griechischer Flagge ist das größte Containerschiff der Welt. Fast 9.500 Standardcontainer ("Twenty Feet Unit" oder TEU) kann die Ghuangzou laden, 700 mehr als der bisherige Rekordhalter. Die 350 Meter Länge des Schiffes übertreffen die Breite der Elbe und stellen die Hamburger Lotsen vor die Herausforderung, das in der Strömung liegende Schiff ganz passgenau zu drehen. Doch um Punkt 15 Uhr ist das Manöver vollbracht, und der Gigant liegt am Container Terminal Tollerort.
Deutschlands größter Hafen ist ein Schaufenster der Globalisierung. Vor allem aufgrund des rasanten Wachstums in Fernost wuchs der Seegüterumschlag allein im vergangenen Jahr um zehn Prozent. Kamen im Jahr 1997 noch 3,5 Millionen Container in der Hansestadt an, waren es 2004 bereits sieben Millionen. Bis 2015 sollen es stolze 18 Millionen werden - so sieht es der Hafenentwicklungsplan der Stadtregierung vor. Die Warenströme schwellen also an. China produziert für die Welt, und Deutschland öffnet seine Tore. Wohin aber spült die Globalisierung die reißenden Warenströme, und wie viel bleibt davon in Deutschland hängen? Angesichts hoher öffentlicher Subventionen, schwer wiegender Umwelteingriffe und der Evakuierung ganzer Dörfer für die geplanten Erweiterungsmaßnahmen fragen sich immer mehr Menschen, inwiefern denn Deutschland von diesem globalen Warenverkehr profitiert. Sind wir am Ende ein billiges Transitland geworden, irgendwo auf halber Strecke zwischen Peking und Moskau?
Die Asiaten jedenfalls haben am Hamburger Hafen großen Gefallen gefunden: 200 Jahre, nachdem Hamburger Kaufleute die Seewege nach China öffneten, befinden sich vier der zehn wichtigsten Handelspartner Hamburgs in Asien: die Volksrepublik China, Singapur, Japan und Südkorea. Der gesamte Containerverkehr Hamburgs mit Ostasien, Südostasien und dem Indischen Subkontinent erzielte im letzten Jahr jeweils zweistellige Zuwachsraten. Am Beispiel von China wird deutlich, dass die Asiaten in den Häfen der deutschen Nordsee hohe Außenhandelsüberschüsse erzielen: 12 Millionen Tonnen Importgütern standen im vergangenen Jahr lediglich 7 Millionen Tonnen Exporte Richtung China gegenüber. Ein Verhältnis, das im krassen Gegensatz zum Gesamtverhältnis von Empfang und Versand steht: Hier sind die Ladungsmengen nämlich beinahe ausgeglichen.
Wohin gehen die Millionen von Containern, die jährlich in Hamburg einlaufen? "Kisten drehen" nennen die Arbeiter den Prozess des Verladens am Ballin-Kai in Altenwerder. Immer häufiger drehen sie diese Kisten in Richtung Osteuropa. Neben den Zielen in Skandinavien hat Hamburg durch den Fall des Eisernen Vorhangs heute auch sein traditionelles Hinterland wieder: die baltischen Republiken, Zentral- und Osteuropa. Sie werden über die Häfen von Riga oder Kaliningrad bedient. Außerdem werden in Hamburg rund 70 Prozent der Güter auf die Schiene verladen. "Im Vergleich zu den Wettbewerbshäfen ist die Verbindung zu Zielen in Ost- und Zentraleuropa 300 bis 500 Landkilometer kürzer", so beschreibt die Hamburger Hafen Logistik AG (HHLA) ihre Vorteile gegenüber der Konkurrenz in Antwerpen, Rotterdam und Bremen.
So weist der Handel, den die Russische Föderation und das neue EU-Mitglied Polen über Hamburg abwickeln, traumhafte Zuwachsraten von rund 50 beziehungsweise 34 Prozent auf. Dass gerade Deutschland zum Transitland zwischen Fernost und Osteuropa wird, ist politisch gewollt. Es gehört zur "Hightech-Strategie" der Bundesregierung, "das Transitland Deutschland zur Logistikdrehscheibe Europas zu machen". Unabhängig davon, welcher Teil der großen Warenströme im Endeffekt dem originär deutschen Außenhandel gutgeschrieben werden kann, erhofft sich die Regierung positive Effekte für deutsche Fahrzeug-, Verkehrs- und Transporttechnologien.
Es geht vor allem um den Kraftfahrtverkehr, aber nicht ausschließlich: So ist der Wirtschaftssektor Logistik (also die Planung, Steuerung und Durchführung aller Informations- und Güterflüsse) heute bereits der drittgrößte Wirtschaftszweig im Land. Nach Angaben der Bundesvereinigung Logistik (BVL) belegt die Branche mit einem Umsatz von 170 Milliarden Euro hinter der Automobilindustrie (ca. 285 Milliarden Euro) und dem Gesundheitswesen (ca. 250 Milliarden Euro) zusammen mit dem Maschinenbau den Platz Nummer Drei. Einer BVL-Studie zufolge werden dem Wirtschaftssektor Logistik derzeit 2,5 Millionen Erwerbstätige direkt zugerechnet - 50 Prozent davon in der Industrie und im Handel. Weitere 600.000 sind in der Zulieferindustrie beschäftigt. An der Küste sieht es auf Mikroebene nicht anders aus. Für den Hamburger Senat sind die Häfen "die größten Arbeitgeber Norddeutschlands". Häfen und Schifffahrt böten bundesweit rund 250.000 Menschen Arbeit, rechnet Hamburgs Wirtschaftssenator Gunnar Uldall vor. Im ganzen Bundesgebiet sorge der Hafen für eine Wertschöpfung von 17 Milliarden Euro, davon knapp zwei Drittel in der Region. Deshalb investiere Hamburg jetzt 746 Millionen Euro in die Erweiterung des Hafens. In Bremen investiert die Regierung eine ähnliche Summe, und in Niedersachsen entsteht für 600 Millionen Euro der Jade Weser Port.
1.800 neue Arbeitsplätze soll er schaffen, die dann mit über 300.000 Euro pro Job subventioniert wären. Die hohen öffentlichen Investitionen und die Konkurrenz, die die Häfen der deutschen Bundesländer sich gegenseitig machen, sind mitverantwortlich für die gefeierten Wachstumsraten an den Kais. Gerade einmal 100 Dollar kostet das Verladen eines Containers in Deutschland, in China ist es dreimal so teuer. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens ist es weltweit üblich, dass die Reeder und Terminalbetreiber die Infrastruktur mitfinanzieren - außer eben an der Nordseeküste zwischen Hamburg und Le Havre. Versuche, die Reeder am Neubau des Weser Port zu 50 Prozent an den Kosten zu beteiligen, sind politisch gescheitert. Und zweitens haben es die nördlichen Bundesländer bislang abgelehnt, sich auf das "nationale Hafenkonzept" zu einigen, das vom ehemaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin gefordert wurde.
"Dieser Wettbewerb um die größten Containerschiffe der Welt ist überflüssig", meinen Umweltschützer wie die Expertin Beatrice Claus vom World Wide Fund for Nature (WWF). "Er kostet Milliarden und schädigt Flüsse und Küsten der Nordseeregion." Der Schifffahrtsexperte Burkhard Lemper sieht das ganz anders: "Die Kapazitäten der Häfen sind knapp, und bleiben knapp", betont der Experte vom Bremer Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL). Das von Reedern, Speditionen und Banken geförderte Institut verteidigt die Subventionen: Ohne sie seien die deutschen Häfen gegen die ebenfalls subventionierten Wettbewerber nicht konkurrenzfähig. Außerdem würde ohne den Ausbau in Deutschland viel überflüssiger Landverkehr zwischen den westeuropäischen Häfen und beispielsweise Osteuropa entstehen. Es sei auch nicht so, dass die deutschen Häfen sich gegenseitig Kapazitäten wegnähmen, betont Lemper: "Die arbeiten alle schon am Anschlag." Am Ende profitiere die gesamte Region. Wenn also die deutschen Häfen heute schneller wachsen als ihre Konkurrenten, dann kann man von erfolgreicher Standortpolitik sprechen. Die kostet allerdings auch Geld - und das zahlt der Steuerzahler.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.