Der britische Journalist James Kynge, von 1998 bis 2005 Leiter des Büros der Financial Times in Peking, setzt sich aus der Perspektive des teilnehmenden Beobachters kritisch mit den Folgen des rasanten wirtschaftlichen Booms in China und weltweit auseinander. Negativ beurteilt Kynge den Prozess, in dem sich China "im Zeitraffertempo" der übrigen Welt zugeselle, und bezieht sich dabei vor allem auf Produktpiraterie, Überproduktion und Umweltverschmutzung. Insgesamt sei die Entwicklung "voll von menschlichem Leid, Entfremdung und Sehnsucht". Eindrucksvoll illustriert er seine These mit den Schicksalen von Gewinnern und Verlierern der Modernisierung. In diesen Schilderungen wird die tiefe Sympathie des Autors für Land und Leute deutlich. So gewinnt der Leser Einblicke in das unstete Leben eines chinesischen Selfmade-Unternehmers, der den mühsamen Aufstieg vom inhaftierten Regimekritiker zum wohlhabenden Fabrikbesitzer schaffte.
Zu Wort kommt ein Anwalt, der trotz aller Hindernisse und Bedrohungen die Interessen von 10.000 privaten Investoren vertritt, deren Ölquellen von den Behörden ohne Entschädigung konfisziert wurden.
Entlang dieser persönlichen Geschichten entwickelt Kynge seine fundierte Darstellung des rasanten Aufstiegs des Reichs der Mitte und dessen Auswirkungen auf die europäische und die US-Wirtschaft. Dies führt mitunter zu überraschenden Statements: Das Gute, das die Chinesen für die Wirtschaft der USA und Europas tun, sei weniger sichtbar als die schädlichen Auswirkungen auf die dortigen Arbeitsplätze. Die wirtschaftliche Macht Chinas und der gegenwärtige "Deflationsboom" mit den sinkenden Preisen für viele Produkte haben letztlich positive Folgen für den Lebensstandard von Amerikanern und Europäern. Kynges Fazit scheint denn auch beruhigend zu sein: China sei "zu eng mit der Welt verbunden, zu tief in ihre Organisationen und Abkommen einbezogen und zu abhängig von anderen, um die Hände zurückzustoßen, die das Land nähren".
Dass die USA und Europa vorläufig noch eine Chance gegen die aufstrebenden Mächte des Fernen Ostens haben glaubt auch Karl Pilny. Dennoch, so lautet seine These, dürfte der Aufbruch "Chinindias" (so Pilny) ins 21. Jahrhundert eine der größten Herausforderungen der westlichen Welt sein. Kaum ein Jahr ist vergangen, seit der Anwalt und Asien-Spezialist in seinem Buch das "Asiatische Jahrhundert" die ökonomische und politische Bedeutung Chinas und Japans im internationalen Vergleich profund erklärte und deren wirtschaftliche Vormachtstellung im 21. Jahrhundert prognostizierte. Diesmal stellt er das Mit- und Gegeneinander der kommenden Wirtschafts-Supermächte China und Indien in den Mittelpunkt. Vor dem knapp und einprägsam geschilderten Hintergrund der politischen, ökonomischen und kulturellen Geschichte analysiert der Autor die Jetzt-Zeit-Szenarien beider Länder. Anders als viele Publikationen zu dieser Materie vermeidet seine glänzend geschriebene Darstellung Dämonisierungen und Übertreibungen.
Die geringere "Gefahr" für den Westen geht nach Pilnys Meinung von Indien aus. Tatsächlich entwickelt sich der indische Subkontinent zum Liebling der Medien, während sich das Chinabild in Deutschland verdüstert. "Ende des Honey-moons" titelte vor kurzem ein Wirtschaftsmagazin. Pilnys Charakterisierung Indiens als "Callcenter der Welt" und Chinas als "Weltfabrik" deuten auf die Gründe für die unterschiedlichen Images hin. Chinas Hauptstärke liege in der schnellen Umsetzung und Kommerzialisierung von Ideen und Anwendungen, die oftmals von Dritten stammen. Im Gegensatz dazu habe Indien den Ehrgeiz und Willen, sich stärker für die Anwendungs- und Grundlagenforschung zu etablieren. Auf einen kurzen Nenner gebracht: "Während China das Land der Massenproduzenten ist, ist Indien das Land der Tüftler."
Ungeachtet dessen profitieren beide Länder von der Globalisierung und teilen das Bestreben nach einer multipolaren Weltordnung. Von ungetrübter Harmonie kann dabei keine Rede sein, denn Grenzstreitigkeiten, militärische und wirtschaftliche Rivalität belasten seit Jahrzehnten die Beziehungen, wenn auch in den vergangenen Jahren die Kooperationen zunahmen.
Schließlich müssen beide Länder die rasche Urbanisierung, die starken sozialen und ökonomischen Gegensätze zwischen Stadt und Land bewältigen. Darüber hinaus hat Indien, mit 1,1 Milliarden Einwohnern größte parlamentarische Demokratie der Welt, mit Korruption, politischem Separatismus, einem starren Kastensystem und starken Gegensätzen zwischen verschiedenen Religionen zu kämpfen.
Die traditionelle Anlehnung der einstigen britischen Kolonie an das anglo-amerikanische System in den Bereichen Bildung, Recht, Buch- und Rechnungsführung prädestiniere Indien zu einer den USA und Großbritannien komplementären Outsourcing-Industrie. Weitere wirtschaftliche Hoffnungsträger sind der Medizintourismus, die Filmindustrie, die Biotechnologie und die Pharmabranchen. Ohne politische und soziale Reformprozesse, ohne die Instandsetzung der Infrastruktur und ohne massive Investitionen aus dem Ausland werde, so Pilny, der Fortschritt zwar auf sich warten lassen, auf Dauer aber nicht aufzuhalten sein.
China, wo die Zukunft schon vor über zwei Jahrzehnten begonnen habe, werde mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern dem Nachbarland dennoch bis auf weiteres auf vielen Gebieten überlegen bleiben. Die Exportkapazitäten und die Attraktivität des chinesischen Marktes für ausländische Investoren scheinen bei aller Skepsis westlicher Kritiker ungebrochen zu sein. Nur mit einschneidenden und existentiell wichtigen Veränderungen könne Europa dem Aufstieg der "asiatischen Riesen" China und Indien wenigstens für eine gewisse Zeit standhalten. Pilny teilt die Meinung namhafter asiatischer Politiker: Das wirtschaftliche und politische Zusammenrücken der beiden Nuklearmächte, in denen fast 40 Prozent aller Menschen leben, könne jedoch die Welt in ihren Grundfesten erschüttern.
Karl Pilny: Tanz der Riesen. Indien und China prägen die Welt. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006, 372 S., 24,90 Euro
James Kynge: China. Der Aufstieg einer hungrigen Nation. Murmann Verlag, Hamburg 2006, 19,50 Euro