Das Parlament: Herr Professor Rürup, Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Gesundheitsreform als "wichtigstes Vorhaben" der Legislaturperiode. Ist ein angemessenes Ergebnis dabei herausgekommen?
Bert Rürup: Nein, im Ergebnis steckt diese Reform, was die zukünftige Finanzierung der Krankenkassen angeht, voller Ungereimtheiten. Einen wirklichen Fortschritt kann ich in dem Konzept, so wie es beschlossen wurde, nicht erkennen.
Das Parlament: Schwarz-Rot wollte laut Koalitionsvertrag die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stabilisieren. Jetzt steigen sie trotz Reform nach Schätzungen der Kassen auf im Schnitt 15,1 Prozent in 2007 und 15,4 Prozent in 2008. Wie erklären Sie das?
Bert Rürup: Da ist in der Tat einiges schief gelaufen. Eine Reform, die das Ziel der Beitragssatzstabilität hat, erst einmal mit einer satten Beitragserhöhung zu beginnen, ist politisch nicht sonderlich klug. Zumal diese Beitragserhöhung zum Teil von der Politik selbst verschuldet ist: 2004 hat man die Tabaksteuer erhöht, um versicherungsfremde Leistungen stärker über Steuern zu finanzieren. Jedes Jahr sollten dadurch 4,2 Milliarden an Steuerzuschüssen in das System fließen. Dieser Bundeszuschuss wurde schon im Haushaltsbegleitgesetz wieder gestrichen, die Tabaksteuer blieb. Nach langem Hin und Her gibt es jetzt ab 2008 einen neuen - allerdings geringeren - Bundeszuschuss. Aber über die gesamte Legislaturperiode werden - im Vergleich zum Status des Jahres 2005 - durch diesen Zickzackkurs auch unter Berücksichtigung der jüngsten Beschlüsse bis zum Jahr 2009 fast 6 Milliarden Euro an Steuermitteln vorenthalten. Letztlich ist die Erhöhung des Krankenkassenbeitrags zu einem relevanten Teil nichts anderes als eine Sonderlohnsteuer der GKV-Mitglieder zur Sanierung des Bundeshaushalts.
Das Parlament: Wie meinen Sie das?
Bert Rürup: Finanzminister Peer Steinbrück kann im Vergleich zur Situation des Jahres 2005 mehr Steuergelder für den Bundeshaushalt behalten, wenn dafür die GKV-Beiträge steigen. Das halte ich für falsch, zumal es die richtige Philosophie einer steuerlichen Ko-Finanzierung des Gesundheitssystems untergräbt. Man kann sich nämlich nicht darauf verlassen, wenn über die Steuerzuschüsse frei nach Kassenlage entschieden wird.
Das Parlament: Monatelang hatten die Koalitionsfraktionen um Details der Reform gestritten, darüber zerbrach fast die Koalition - hätte man Bürgerversicherung und Kopfpauschale nie in ein Modell pressen dürfen?
Bert Rürup: In einer Großen Koalition hätte man hoffen können, dass es gelingt, die richtigen Elemente beider Konzepte zu vereinen. Die Idee des Gesundheitsfonds wäre ein gangbarer Weg dazu gewesen, aber in seiner jetzigen Ausgestaltung bedeutet er im Vergleich zum Status quo eine Verschlechterung. Die Union wollte mit ihrer solidarischen Gesundheitsprämie eine weitgehende Abkopplung der Gesundheitskosten von den Löhnen und damit von den Arbeitskosten erreichen; die SPD wollte über ihre Bürgerversicherung einen einheitlichen Krankenversicherungsmarkt. Beides sind richtige Elemente, aber in dieser Form der Finanzierungsseite ist die wünschenswerte Kombination dieser Elemente misslungen. Es gibt bestenfalls einen politischen Vorteil: Bei entsprechenden Mehrheiten kann man über den Fonds ganz schnell zur Bürgerversicherung à la SPD oder zur Gesundheitsprämie à la CDU kommen.
Das Parlament: Wird der Gesundheitsfonds mehr Wettbewerb bringen?
Bert Rürup: Die Rückerstattungen und der Zusatzbeitrag sind die einzig verbliebenen Wettbewerbselemente auf der Finanzierungsseite. Insbesondere der Zusatzbeitrag ist aber höchst problematisch ausgestaltet: Erstens können die Kassen entscheiden, ob sie einen absoluten Euro-Betrag verlangen oder einen prozentualen Beitrag vom Einkommen. Das ist intransparent und erschwert den Kassenvergleich für die Versicherten. Zweitens darf der Zusatzbeitrag im Rahmen einer "Überforderungsklausel" nicht mehr als ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens betragen. Kassen, die durchaus effizient wirtschaften, aber viele Geringverdiener, Rentner oder beitragsfrei mitversicherte Kinder und Ehefrauen unter ihren Versicherten haben, werden, wenn sie Zusatzbeiträge erheben müssen, benachteiligt.
Das Parlament: Können Sie das noch genauer erklären?
Bert Rürup: Nehmen wir zum Beispiel zwei Kassen, die jeweils 10 Millionen Versicherte haben, also Personen mit Leistungsansprüchen. Die eine Kasse hat fünf Millionen Mitglieder, sprich Beitragszahler, und fünf Millionen beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige. Die andere Kasse hat sieben Millionen Beitrag zahlende Mitglieder und nur drei Millionen Mitversicherte. Hätten beide Kassen ein Finanzvolumen von einer Milliarde an Zusatzbeiträgen, müsste die eine Kasse einen monatlichen Zusatzbeitrag von 16,67 Euro pro Mitglied erheben, die andere nur 11,90 Euro. Allein aufgrund ihrer zufälligen Mitgliederstruktur hätte die eine Kasse weniger Chancen im Wettbewerb als die andere. Über den Zusatzbeitrag wird sich kein Preiswettbewerb entwickeln.
Das Parlament: Über den Beitragssatz können die Krankenkassen ja auch nicht mehr konkurrieren. Er muss durch den Gesundheitsfonds vom Jahr 2009 an bundesweit einheitlich sein. Was machen Kassen, die trotz Zusatzbeitrags nicht mit ihrem Geld auskommen?
Bert Rürup: Schlimmstenfalls gehen sie pleite oder müssen rechtzeitig mit anderen Krankenkassen fusionieren. Über die Anwendung des Insolvenzrechts wird ja noch gestritten. Die Versicherten können in so einem Fall aber die Kasse wechseln und sind sofort weiter versichert.
Das Parlament: Haben Sie Sorge, dass die Kassen verdeckte Leistungskürzungen vornehmen werden, um ohne Zusatzbeitrag oder überhaupt finanziell über die Runden zu kommen?
Bert Rürup: Nein, das sehe ich nicht. Die Leistungen sind im Leistungskatalog vorgegeben, und es gibt ja auch noch die Abstimmung mit Füßen: Wenn sich herumspricht, dass eine Kasse vieles ablehnt oder schlechten Service bietet, wechseln die Leute. Das geht ganz schnell.
Das Parlament: Damit Krankenkassen aus bestimmten Bundesländern nicht plötzlich deutlich mehr in den Finanzausgleich ein-zahlen müssen als bisher, gibt es nun eine so genannte "Konvergenzklausel", die die Länder vor Überforderung schützt. Halten Sie diese Ausnahmeregelung auf Wunsch einiger Ministerpräsidenten für sinnvoll?
Bert Rürup: Diese Klausel taugt nichts. Da wird so getan, als gehörten die Kassen den Ländern: Auf einmal müssen Kassenfinanzen nach Regionen abgegrenzt werden und so weiter. Das ist ein politisches Placebo - es ist unpraktikabel, methodisch nicht haltbar und greift nicht.
Das Parlament: Ursprünglich sollten die privaten Krankenversicherungen stärker in die Finanzierung eingebunden werden, jetzt ist nur ein Kontrahierungszwang im Basistarif herausgekommen, das heißt, die Privaten müssen jeden ohne Risikoprüfung aufnehmen. Reicht Ihnen das?
Bert Rürup: Nein. Der gefundene Kompromiss zu den Privaten ist zwar besser als der Status quo. Gleichwohl hat sich die Politik an dieser Stelle um eine Grundsatzentscheidung herum gedrückt. Eine Versicherungspflichtgrenze, wie wir sie in Deutschland haben, ist versicherungsökonomisch nicht begründbar. Es gibt keinen rationalen Grund dafür, dass die Wahl der Versicherung von der Art der Erwerbstätigkeit und der Einkommenshöhe abhängen soll. Konsequent wäre es, die Versicherungspflichtgrenze abzuschaffen und eine allgemeine Versicherungspflicht für einen gesetzlich vorgegebenen Basisschutz einzuführen. Einen solchen Basistarif hätten alle Kassen - egal, ob gesetzlich oder privat bei einheitlichen Regeln zur Beitragsbemessung - anzubieten. Das wäre nicht das Ende der privaten gewinnorientierten Krankenversicherung. So wie es jetzt geregelt wurde, haben wir immer noch keinen echten Wettbewerb um Bestandskunden innerhalb des PKV-Systems.
Das Parlament: Aber als privat Versicherter soll ich doch immerhin bei einem Wechsel zu einer anderen Privatkasse meine Alterungsrückstellungen mitnehmen können…
Bert Rürup: Richtig, aber nur im Rahmen eines Basistarifs und dies auch nur mit Einschränkungen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen Ihre Bank wechseln, müssten Ihr Sparguthaben aber zurücklassen. Portabilität von Alterungsrückstellungen ist wichtig und richtig. Ungeachtet der geplanten Veränderungen werden wir aber auch in der Zukunft immer noch zwei Krankenkassensysteme haben, die nach unterschiedlichen Prinzipien arbeiten und finanziert werden. Die damit verbundenen Probleme der Risikoentmischung und Marktsegmentierung bleiben weitgehend bestehen.
Das Parlament: Bewerten Sie diese Gesundheitsreform als langfristig und nachhaltig? Wann kommt der Patient Gesundheitssystem wieder unters Messer?
Bert Rürup: Schon bald. Die Maßnahmen auf der Ausgabenseite gehen durchweg in die richtige Richtung, da wird durchaus mehr Wettbewerb zustande kommen. Aber die Finanzierungsseite bleibt auf der Agenda: Wir haben keinen einheitlichen Krankenversicherungsmarkt, es gibt keine Abkopplung der Gesundheitskosten von den Löhnen und damit von den Arbeitskosten, es ist kein verlässlicher Einstieg in die steuerliche Kofinanzierung zu erkennen, aber die Beiträge steigen. Diese Finanzierungsreform reicht für diese Legislaturperiode - dann geht es wieder los.
Das Parlament: Kann sich die Koalition so ein Hickhack wie bei der Gesundheitsreform in anderen Bereichen, etwa bei der anstehenden Pflegeversicherung, noch einmal leisten?
Bert Rürup: Nein! Der ganze Ablauf der Gesundheitsreform sollte der Koalition jetzt eine Lehre für die Pflegereform sein. Aber was man zwischenzeitlich aus den Fraktionen hört, stimmt nicht sonderlich hoffnungsvoll.
Das Gespräch führte Eva Haacke. Eva Haacke ist Parlamentskorrespondentin der "Wirtschaftswoche".