Es wird gekürzt, gespart und gedroht: Eine neue Generation von Insulinen wird für Kassenpatienten nicht mehr bezahlt. Akupunktur gegen Kopfschmerzen gibt es auch nicht. Und zu allem Überfluss steigt der Kassenbeitrag weiter an. Wer kann, flieht in die private Versicherung. Wer es nicht kann, hat Angst vor der Zukunft. Angst davor, dass ihn eine chronische Krankheit in den Ruin treiben könnte. So die gefühlte Wirklichkeit. Eine Folge des Medienkrieges, den Gesundheitsministerin Ulla Schmidt seit Monaten mit Vertretern von Kassen, Ärzten und Krankenhäusern führt. Der Bürger hat Angst, als Kassenpatient zu einem Kranken zweiter Klasse zu werden. Und Angst im Gesundheitswesen ist fatal. Dabei sagen auch die Kritiker: Die Leistungen im Medizinbereich sind in den vergangenen Jahren überhaupt nicht beschnitten worden. Am Beispiel Akupunktur kann man sogar das Gegenteil beobachten: Scheinbar wird sie nun bei Kopfschmerzen nicht mehr bezahlt. In Wirklichkeit ist ungekehrt die Kostenerstattung der Nadeltherapie gegen Rücken- und Knieschmerzen ist neu in den Katalog der Kassenleistung aufgenommen worden - Akupunktur gegen Kopfschmerz stand nie in diesem Leistungskatalog. Beispiel Insulin: Die neue Generation der Analoginsuline war in einer Analyse den altbewährten Humaninsulinen nicht überlegen. Also wurden diese teuren neuen Medikamente aus dem Katalog gestrichen.
Dass es trotzdem so wirkt, als würde alles immer schlimmer, hängt auch mit der Industrie, mit Ärzten und Lobbyisten zusammen. So hat der Pharmahersteller Pfizer sich mit einer ungewöhnlich aggressiven Anzeigenkampagne gegen die Preissenkung von Medikamenten, die das Blutfett senken, gewehrt: "Ab Januar wird gespart: an der Gesundheit von Millionen Herz-Kreislaufpatienten" hatte es in der Presse geheißen. Die Angst der Betroffenen wurde gezielt geschürt. Aber auch, wenn Ärzte im weißen Kittel auf Demonstrationen Särge zu Grabe tragen, geben sie ein verheerendes Signal an ihre Patienten. Sicher, das Gesundheitssystem in Deutschland könnte besser sein - aber es ist besser als sein schlechter Ruf.
Ein Blick ins Ausland verwundert und beruhigt zugleich: "Im internationalen Vergleich stehen wir ausgesprochen gut da", sagt Professor Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin. Sein Institut "Management im Gesundheitswesen" ist an der Erstellung des europäischen "Health Basket" beteiligt - einem Projekt, das die Medizin in neun europäischen Ländern vergleicht. "Für die wesentlichen Leistungs-blöcke können wir europaweit keinen entscheidenden Unterschied feststellen", sagt Busse, "aber die Verfügbarkeit dieser Leistungen ist in Deutschland vergleichsweise gut." Gemeint ist: Wenn etwa ein Kopfschmerzpatient "in die Röhre" geschoben werden soll, reicht es nicht, dass ihm diese Leistung per Gesetz zusteht - es müssen auch die entsprechenden Geräte vorhanden sein. Und diese technische Versorgung ist in Deutschland gut. Nur die Schweiz und Japan haben eine ähnlich dichte Abdeckung mit diesen Geräten, so Busse, aber das hat in Japan eher kuriose Gründe: "Japaner lassen sich, im Gegensatz zu den Deutschen, sehr ungern operieren. Bevor sie sich aufschneiden lassen, muss der Körper in allen Ebenen durchleuchtet sein." Deshalb die vielen Geräte.
Die Entscheidung über den Leistungskatalog der Kassenleistungen fällt ein Gremium, das selbst unter Ärzten weitgehend unbekannt ist: Der gemeinsame Bundesausschuss, g-BA, befindet in aller Stille darüber, was für die 70 Millionen Kassenpatienten zur Gesundheit notwendig ist und was nicht. Hier sitzen Vertreter der Ärzteschaft, der Kassen, Krankenhäuser und - ohne Stimmrecht - auch mehrere Patientenvertreter. Hier wurde über Insuline, Akupunktur und viele andere Behandlungen der Stab gebrochen. Die wissenschaftliche Grundlage dieser Entscheidungen liefert seit zwei Jahren ein Institut mit dem Namen "Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen", kurz IQWiG. Es analysiert Medikamente und Behandlungen und soll dies unabhängig von Ärzten, Kassen, Industrie und dem Gesundheitsministerium tun. Seine Ergebnisse werden dem ebenfalls unabhängigen g-BA berichtet.
Genau dort wird sich durch die Gesundheitsreform allerdings einiges ändern: Der gemeinsame Bundesausschuss wird neu strukturiert, die Anzahl der Personen erheblich reduziert - aus weisungsgebunden Vertretern der Mitgliederorganisationen werden hauptamtliche Mitarbeiter. Der Ausschuss wird - je nach Sichtweise - verschlankt oder kastriert. "Die Selbstverwaltung wird mit dem neuen Gesetz faktisch abgeschafft", sagt Professor Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer. "Durch die Neustrukturierung bekommt das Ministerium direkten Zugang auf die Entscheidungsebene." Und Rainer Hess, der Vorsitzende geht noch einen Schritt weiter: "Wenn dieses Streitforum abgeschafft wird, werden solche Interessensgegensätze später im nachhinein ausgetragen - sei es vor Gericht, im Ministerium oder durch die schlichte Verweigerung von Ärzten, Krankenhäusern oder anderen Beteiligten." Eine unverhüllte Drohung in Richtung Ministerin. Die Kritiker des g-BA sehen in der Veränderung dagegen eine notwendige Reform: "Der Bundesausschuss war bisher ein Basar der Lobbygruppen", sagt Professor Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD. "Die Interessengruppen, etwa die Kassenärztliche Vereinigung oder die Krankenkassen, werden beim Durchdrücken ihrer Einzelinteressen bewusst entmachtet."
Eine Veränderung deutet sich schon jetzt an: Die Aufgabe des IQWiG wird entscheidend erweitert. Im Entwurf der Gesundheitsreform versteckt sich auf Seite 288 eine neue "Kosten-Nutzen-Bewertung". Ein Satz mit Folgen: "Das Medikament X ist zwar besser als Y - der Unterschied ist allerdings zu klein, um die höheren Kosten zu rechtfertigen." Das bisherige Credo "Was sinnvoll ist, wird auch von der Kasse bezahlt" wird ersetzt durch "Was sinnvoll und bezahlbar ist, wird bezahlt." Nicht immer wird es dabei um Leben oder Tod gehen - meist eher um Lebensqualität und Komfort. Etwa wenn ein neues Präparat bei gleicher Wirkung nicht mehr täglich, sondern nur noch einmal wöchentlich gespritzt werden müsste - wie viel Mehrkosten ist dieser Komfort dann wert? Oder wenn ein Blutdruckmedikament jeden zehnten Patienten impotent macht, ein neues aber nur jeden vierzigste - wie viel Zusatzkosten sind dann wirtschaftlich? Und schließlich: Wie viel Geld ist ein zusätzlicher Lebensmonat am Ende des Lebens eines Schwerkranken noch "wert"? Die Entscheidungen, die der Gesetzgeber dem noch jungen Institut aufbürden will, sind ethische Grundsatzfragen. Der Leiter des IQWiG, Professor Peter T. Sawicki, ist über diese Kompetenzausweitung nicht glücklich. "Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens, eine Diskussion darüber, wie viel ein zusätzlicher Lebenstag kosten darf - und das kann das Institut allein nicht leisten." Wohin die Reise gehen könnte, zeigt Großbritannien: Dort wurde die Kosten-Nutzen-Analyse auf den Punkt gebracht: Ein zusätzliches Lebensjahr ist maximal 30.000 Pfund wert, umgerechnet 44.751 Euro. Wenn eine Behandlung mit entsprechendem Erfolg mehr kostet, ist sie unwirtschaftlich und wird nicht mehr bezahlt. Ob es dazu kommen kann, ob diese Form von Zwei-Klassen-Medizin hierzulande jemals Wirklichkeit wird, ist fraglich.
Eine andere Form der Zwei-Klassen-Medizin gibt es aber schon heute, jeweils am Quartalsende, also Ende März, Juni, September und Dezember. In dieser Zeit wird es für Kassenpatienten riskant - sie werden Opfer eines absurden Abrechnungssystems. Es ist die Zeit, in der Patienten darüber klagen, dass ihr Arzt ihnen ein bestimmtes Medikament nicht mehr verschreiben wolle, dass sie keine Termine mehr bekämen, dass ihr Arzt im Urlaub sei. Das hat einen Grund: Am Quartalsende stoßen die Ärzte an die Grenzen der Planwirtschaft. Denn jede Praxis hat ihren individuellen Sollwert, das "Punktzahlgrenzvolumen". Dieser Wert darf zwar unter - aber niemals überschritten werden. Wenn doch, bekommt der Arzt nicht mehr Geld. Pech für die Kassenpatienten, die am Quartalsende teure Medikamente oder bestimmte Untersuchungen benötigen. Wenn das Kontingent überschritten ist, ist meist Schluss. Privatpatienten bekommen dagegen weiterhin Termine, Rezepte und Untersuchungen.
Der wirtschaftlich denkende Arzt müsste, wenn er den ihm erlaubten Umsatz erreicht hat, in eine Art Bummelstreik treten. Das tun auch viele, andere wider besseren Wissens nicht: "Wir handeln mit einem gewissen Fatalismus", sagt ein Internist, der nicht genannt werden will. "Wir behandeln weiter und hoffen, dass wir am Ende mit einem blauen Auge davonkommen." Aber am nächsten Monatsanfang steht der Zähler dann wieder auf Null und der Arzt kann untersuchen, verschreiben und behandeln. Und der kluge Patient kommt sowieso eher am Anfang des Quartals. Absurd? Sicherlich. Aber die Reform lässt dieses System unangetastet.
Entwarnung ist trotzdem angesagt: Eine wirkliche Zwei-Klassen-Medizin gibt es in Deutschland nicht. Zwar gibt es für Privatpatienten kurze Wartezeiten, Chefarztbehandlung oder Einzelzimmer im Krankenhaus, aber das ist eher Service. Die lebenswichtigen medizinischen Leistungen bekommt auch der Kassenpatient. Damit er selbst kontrollieren kann, dass es auch so bleibt, wäre ihm mehr Transparenz und Wahlfreiheit zu wünschen - und genau hierbei geht die Gesundheitsreform in eine fatal falsche Richtung.
Der Autor arbeitet als niedergelassener Neurologe und freier Wissenschaftsjournalist.