Das Parlament: Herr Müller, Politik und Wirtschaft verlangen von der Gesellschaft Flexibilität, Eigenverantwortung und Mut zu Reformen, damit die Konjunktur wieder an Fahrt gewinne. In Ihrem neuen Buch drehen Sie diese Forderung gewissermaßen um und machen mittelmäßige Führungseliten für die schlechte Arbeitsmarklage verantwortlich. Wer sind denn diese Eliten und was macht sie so mittelmäßig?
Müller: Mit Eliten meine ich jene Personen, die die politischen Entscheidungen und vor allem auch die öffentliche Meinung in Deutschland bestimmen. Ihre Mittelmäßigkeit zeichnet sich primär dadurch aus, dass sie keine Ahnung von Makroökonomie haben und kein Wissen darüber, wie man eine Konjunktur wieder in Bewegung bringt. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass unsere Bundeskanzlerin sagt, Deutschland ist ein Sanierungsfall - und das mitten in einer Situation, in der es eigentlich darauf ankommt, dieses Land zu loben und die guten Strukturen klar zu machen. Und eben da sagt diese Frau, Deutschland sei ein Sanierungsfall. Da kann ich nur ironisch sagen, das ist eine gute Einladung für alle Investoren und als Öffentlichkeitsarbeiter für Österreich oder die Niederlande muss man sich freuen.
Die andere Sache ist, dass die Eliten nicht mehr fähig sind, die Folgen ihres Handelns zu begreifen, sie sind sehr engstirnig und tätigen politische oder wirtschaftliche Entscheidungen aus betriebswirtschaftlicher Sicht, also in Form betriebswirtschaftlicher Renditeabwägungen. Wir haben es daher mit einer Regression, mit einer Rückentwicklung des Wissens um politische Zusammenhänge zu tun.
Das Parlament: Sie schreiben, dass sich diese mittelmäßigen Eliten spätestens seit 1982 bildeten. War davor alles besser oder was ist der Unterschied zwischen heute und damals?
Müller: Ich habe den Krieg und die Zeit danach erlebt, ich würde nicht behaupten, dass früher alles besser war. Ich habe aber in den 60er-Jahren einen Höhepunkt der Rationalität in unserer Gesellschaft erlebt und gemessen daran und an der politischen Partizipation der Menschen haben wir seit Beginn der 80er-Jahre wieder einen Rückschritt. Man kann das parallel zum Anwachsen der neoliberalen Bewegungen sehen: Je mehr diese an Macht gewonnen haben, desto schwächer wurde die Vernunft in unserer Gesellschaft.
Das Parlament: Wenn diese Eliten so mittelmäßig sind, wie gelangen sie dann in Führungspositionen? Und wieso erkennt niemand ihre Mittelmäßigkeit?
Müller: Es gibt viele Gründe dafür. Zum einen spielen in unserer Gesellschaft die Beziehungen, also das Vitamin B, noch immer eine gravierende Rolle. Das sieht man zum Beispiel daran, wie sich Mitarbeiter von Beratungsfirmen gegenseitig in Jobs hieven, so etwa der Post-Chef Zum Winkel, der kommt von McKinsey. Aus der Geschichte wissen wir, dass mittelmäßige Personen sich immer gegenseitig schützen, daher bilden sie Netzwerke und verhindern, dass kluge Leute nachwachsen oder in ihre Netzwerke dringen.
Das Parlament: Welche Ziele verfolgen diese Eliten?
Müller: Es ist toll, viel Macht zu haben und noch toller, wenn man diese Macht versilbern kann, indem man sechsstellige Jahresgehälter kassiert. Die Eliten verdienen aber noch mehr, wenn sie öffentliche Güter verscherbeln oder Sozialleistungen privatisieren. Die Bahn soll an die Börse, Wasserwerke werden privatisiert, ich skizziere in meinem Buch, wie die Eliten sich in besonderer Weise bedienen. Bei Privatisierungsvorgängen dominiert heute die Frage, wieviel man daran verdienen kann; man muss also immer fragen, wer dahinter steckt. Anhand des bevorstehenden Börsengangs der Ruhrkohle AG kann man es erkennen, Sie müssen sich bloß anschauen, wer als Berater dahinter steckt und so kräftig mitverdient.
Das Parlament: Zu den Eliten zählen Sie unter anderen Hans-Werner Sinn, Meinhard Miegel, Kurt Biedenkopf oder Bernd Raffelhüschen. Sie alle verstehen sich als neutrale Wissenschaftler, werden von Steuergeldern bezahlt, engagieren sich für das Gemeininteresse und geben Ratschläge, wie man den Staat reformieren kann. Was ist schlecht daran?
Müller: Sie verstehen sich als neutrale Wissenschaftler, wissen aber genau, dass sie das nicht sind. Herr Raffelhüschen hatte bis Januar 2006 schon 40 Vorträge für den Finanzdienstleister MLP gehalten. Und das sind keine Vorträge, die mit 1.000 Euro vergütet werden, sondern mit hohen fünfstelligen Beträgen pro Abend, unvorstellbar für einen Studenten, der davon beeinflusst wird und dann seine Privatvorsorge etwa bei MLP macht. Das gleiche gilt auch für Herrn Miegel, der in vieler Weise mit privaten Interessen verfilzt ist. Er betreibt ein eigenes Institut, das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft, dieses ist häufiger Auftragnehmer des Deutschen Instituts für Altersvorsorge DIA, das DIA ist eine Tochter der Deutschen Bank. Da zeigt sich, Herr Miegel ist ein bezahlter Wissenschaftler, der eben nicht unabhängig ist. Das gleiche gilt für Hans-Werner Sinn, der nebenher für Unicredit tätig ist. Wer glaubt, von diesen Wissenschaftlern einen objektiven Rat zu bekommen, hat nicht begriffen, was hierzulande abgeht. Und die meisten Medien haben kein Interesse daran, diese Dinge aufzudecken, im Gegenteil laden sie diese Wissenschaftler auch noch in Talkshows und nennen sie unabhängig.
Das Parlament: Sie schreiben, dass diese Eliten mittlerweile ganze Netzwerke aufgebaut, um somit die politische Agenda zu beeinflussen, auf der es allzuoft heißt, dass der Sozialstaat abgebaut werden müsse. Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Was sind Ihre Quellen?
Müller: Die Quellen sind zunächst einmal die Vernunft. Wenn man in diese Netzwerke hineingeht und sich ansieht, wie beispielsweise die Kracke Bertelsmann ihre Arme über Deutschland geworfen hat und ganz wesentlich die Hochschulpolitik bestimmt und nicht die gewählten Parlamentarier, kann man nur sagen, die Realität ist um vieles schlimmer als es sich der ausgefeimteste Verschwörungstheoretiker ausdenken kann. Wenn Sie sich die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft INSM anschauen, stellen Sie bald fest, dass die sich nicht für Reformen für die Allgemeinheit einsetzt, sondern für die Interessen der Arbeitgeber, von denen sie auch bezahlt wird. Die Interessen beziehen sich auf Niedriglöhne und Schwächung aller sozialen Elemente unserer Gesellschaft, wie beispielsweise den Kündigungsschutz oder die Sozialversicherungssysteme. Die Versicherungen haben ein manifestes Interesse daran, dass die Sozialversicherungen abgebaut werden. Wenn Sie überlegen, dass die Rentenbeiträge derzeit 167 Milliarden Euro pro Jahr ausmachen und die Versicherungen davon nur zehn Prozent bekämen, wären das ungeheure hohe Prämien für die Konzerne. Von diesen Prämien kann man wunderbar die genannten Wissenschaftler oder Politiker bezahlen, die für die Privatisierung werben.
Das Parlament: Was schlagen Sie vor, wie man mit diesen Eliten umgehen sollte?
Müller: Schlicht und einfach aufklären - das ist aus meiner Sicht das allerwichtigste. Etwas Besseres weiß ich jetzt auch nicht, wir können ja keine Revolution machen und die Allianz stürmen oder das Institut von Herrn Rürup abbrennen. Die Lösung muss sein, dass man klarmacht, dass diese Leute keine unabhängigen Ratgeber sind. Deshalb habe ich meine beiden Bücher geschrieben, um aufzuklären, wie weitverbreitet die Gehirnwäsche in unserem Land ist.
Das Parlament: In den letzten Jahren sind einige Bücher prominenter Politiker erschienen, die wie Sie die aktuelle Lage kritisieren. Warum geschieht dies meist erst nach dem Ausscheiden aus der Politik?
Müller: Ich habe auch während meiner acht Jahre im Bundestag kritisiert und gegen den Strich gebürstet. Ich war gegen die Reform der Asylbestimmung, ich war damals schon gegen Auslandseinsätze. Ich habe bei der deutschen Einheit dafür gekämpft, dass wir wirklich souverän werden, und ich war gegen den Irak-Krieg. Das alles ist keine neue Entwicklung, ich hatte damals nur keine Zeit, Bücher zu schreiben.
Das Interview führte Maik Forberger
Albrecht Müller: Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Elite uns zugrunde richtet. Droemer Verlag, München 2006; 364 S., 19,90 Euro.