Vor 3.000 Jahren, so die Darstellung im Alten Testament, führte Moses die Israeliten nach vielen Jahren der Unterdrückung in einer 40-jährigen Wanderung aus Ägypten in das gelobte Land. Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski deutet diesen Exodus in seinem Buch "Das Moses-Prinzip. Die 10 Gebote des 21. Jahrhunderts" dahingehend, dass es wichtig sei, Visionen vom guten Leben zu entwickeln und auf dem Weg zu dessen Verwirklichung auch Umwege nicht zu scheuen. "So ist das Moses-Prinzip zu verstehen: das Phlegma, die Trägheit und die Bequemlichkeit überwinden, den Aufbruch oder gar Ausbruch aus dem Alltag wagen und dem Leben neue Ziele geben." Unter Umständen müsse die heutige Generation Opfer für zukünftige Generationen bringen, aus einer Präsensethik müsse eine Zukunftsethik werden.
Opaschowski, Wissenschaftlicher Leiter des British-American-Tabacco-Instituts in Hamburg, konkretisiert seine Zukunftsvision durch zehn Gebote für das 21. Jahrhundert, die er als Denkanstöße für die gegenwärtige Gesellschaft ansieht, der weitgehend Halt und Orientierung abhanden gekommen seien. So wie die von Moses in Empfang genommenen zehn Gebote die Orientierungslinien für ein von Gott vorgegebenes Werte- und Normensystem enthalten, so will der Autor ein auf Vertrauen, Verlässlichkeit und Verantwortung basierendes Wertesystem entwerfen. Denn die christlichen Gebote verlören an Bedeutung, wie er mit der Geschichte eines Sizilianers verdeutlicht. Dieser antwortet auf die Frage des Pfarrers, ob er die zehn Gebote kenne: "Ich sie lernen wollen, Hochwürden, aber haben gehört munkeln, dass man sie will aufheben."
Konkret stellt Opaschowski folgende zehn Gebote auf: 1. Definiere deinen Lebenssinn neu. 2. Verwechsle deinen Lebensstandard nicht mit deiner Lebensqualität. 3. Mach die Familie zur Konstante deines Lebens und ermutige Kinder zu dauerhaften Bindungen. 4. Knüpf dir ein verlässliches soziales Netz. 5. Hilf anderen, damit auch dir geholfen wird. 6. Verdien dir deinen Lebensinhalt - durch Arbeit oder gute Werke. 7. Mach dein persönliches Wohlergehen zum wichtigsten Auswahlkriterium. 8. Nutze Krisen im Leben als Chance für einen Neubeginn. 9. Suche die Halt- und Ruhepunkte deines Lebens wieder. 10. Mach nicht alle deine Träume wahr.
Wie die zehn Gebote, die Moses in Empfang genommen hat, wendet sich auch Opaschowski direkt an jeden Einzelnen. Und ebenso wie kaum jemand den zehn Geboten aus dem Alten Testament widersprechen wird, werden auch die von Opaschowski vorgestellten Lebensregeln und Leitprinzipien nur selten auf Ablehnung stoßen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die aus religiöser Sicht verständlicherweise sich an den Einzelnen wendenden Appelle und Aufforderungen ausreichen, um eine Gesellschaft wieder auf den rechten Pfad zu führen, die, so der Autor, nur noch eine rastlose, ratlose und bindungslose Jugend hervorbringe. Hier liegt der entscheidende Schwachpunkt der von Opaschowski entworfenen Zukunftsvision: Sie lässt gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen weitestgehend außer Acht. Und dieses ist aus der Sicht der Sozialwissenschaften und der politischen Bildung problematisch, da diese davon ausgehen, dass das Individuum immer durch die es umgebende Gesellschaft beeinflusst wird.
Diejenigen Leserinnen und Leser, die trotz dieser Einschränkung neugierig darauf sind, was genau mit dem Moses-Prinzip gemeint ist, werden in der durchgängig verständlich geschriebenen Veröffentlichung auf zahlreiche gut gemeinte und sprachlich zuweilen zugespitzte Empfehlungen stoßen. So sei heute das Ende der Spaßgesellschaft erreicht und eine Verantwortungsgeneration wachse heran. Wichtig sei zu-künftig eine Mischung aus Sozial- und Genussorientierung und von der früheren Flucht in die Sinne führe aktuell der Weg auf die Suche nach dem Sinn. Deutlich erkennbar ist hierbei die kulturkritische Grundhaltung des Autors, wenn er die Wiederbelebung religiöser und traditioneller Wertvorstellungen anmahnt.
Horst W. Opaschowski: Das Moses-Prinzip. Die 10 Gebote des 21. Jahrhunderts. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006; 176 S., 14,95 Euro.